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Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Acht und achtzig Jahre und sechs Meilen gelaufen! sagten die Umstehenden; sie ist müd' und kindisch, in solchem Alter wird der Mensch schwach.

Mutter, Sie kann aber den Schnupfen kriegen und sehr krank werden hier, und Langeweile wird Sie auch haben, sprach nun einer der Gesellen und beugte sich näher zu ihr.

Da sprach die Alte wieder mit ihrer tiefen Stimme, halb bittend, halb befehlend:

O, laßt mir meine Ruhe, und seid nicht unvernünftig; ich brauch' keinen Schnupfen, ich brauche keine Langeweile; es ist ja schon spät an der Zeit, acht und achtzig bin ich alt, der Morgen wird bald anbrechen, da geh' ich zu meinen Befreundeten. Wenn ein Mensch fromm ist, und hat Schicksale, und kann beten, so kann er die paar armen Stunden auch noch wohl hinbringen.

Die Leute hatten sich nach und nach verloren, und die letzten, welche noch dastanden, eilten auch hinweg, weil der Nachtwächter durch die Straßen kam und sie sich von ihm ihre Wohnungen wollten öffnen lassen. So war ich allein noch gegenwärtig. Die Straße ward ruhiger. Ich wandelte nachdenkend unter den Bäumen des vor mir liegenden freien Platzes auf und nieder; das Wesen der Bäuerin, ihr bestimmter ernster Ton, ihre Sicherheit im Leben, das sie acht und achtzigmal mit seinen Jahreszeiten hatte zurückkehren sehen, und das ihr nur wie ein Vorsaal im Bethause erschien, hatten mich mannigfach erschüttert. Was sind alle Leiden, alle

Acht und achtzig Jahre und sechs Meilen gelaufen! sagten die Umstehenden; sie ist müd' und kindisch, in solchem Alter wird der Mensch schwach.

Mutter, Sie kann aber den Schnupfen kriegen und sehr krank werden hier, und Langeweile wird Sie auch haben, sprach nun einer der Gesellen und beugte sich näher zu ihr.

Da sprach die Alte wieder mit ihrer tiefen Stimme, halb bittend, halb befehlend:

O, laßt mir meine Ruhe, und seid nicht unvernünftig; ich brauch' keinen Schnupfen, ich brauche keine Langeweile; es ist ja schon spät an der Zeit, acht und achtzig bin ich alt, der Morgen wird bald anbrechen, da geh' ich zu meinen Befreundeten. Wenn ein Mensch fromm ist, und hat Schicksale, und kann beten, so kann er die paar armen Stunden auch noch wohl hinbringen.

Die Leute hatten sich nach und nach verloren, und die letzten, welche noch dastanden, eilten auch hinweg, weil der Nachtwächter durch die Straßen kam und sie sich von ihm ihre Wohnungen wollten öffnen lassen. So war ich allein noch gegenwärtig. Die Straße ward ruhiger. Ich wandelte nachdenkend unter den Bäumen des vor mir liegenden freien Platzes auf und nieder; das Wesen der Bäuerin, ihr bestimmter ernster Ton, ihre Sicherheit im Leben, das sie acht und achtzigmal mit seinen Jahreszeiten hatte zurückkehren sehen, und das ihr nur wie ein Vorsaal im Bethause erschien, hatten mich mannigfach erschüttert. Was sind alle Leiden, alle

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[0011] Acht und achtzig Jahre und sechs Meilen gelaufen! sagten die Umstehenden; sie ist müd' und kindisch, in solchem Alter wird der Mensch schwach. Mutter, Sie kann aber den Schnupfen kriegen und sehr krank werden hier, und Langeweile wird Sie auch haben, sprach nun einer der Gesellen und beugte sich näher zu ihr. Da sprach die Alte wieder mit ihrer tiefen Stimme, halb bittend, halb befehlend: O, laßt mir meine Ruhe, und seid nicht unvernünftig; ich brauch' keinen Schnupfen, ich brauche keine Langeweile; es ist ja schon spät an der Zeit, acht und achtzig bin ich alt, der Morgen wird bald anbrechen, da geh' ich zu meinen Befreundeten. Wenn ein Mensch fromm ist, und hat Schicksale, und kann beten, so kann er die paar armen Stunden auch noch wohl hinbringen. Die Leute hatten sich nach und nach verloren, und die letzten, welche noch dastanden, eilten auch hinweg, weil der Nachtwächter durch die Straßen kam und sie sich von ihm ihre Wohnungen wollten öffnen lassen. So war ich allein noch gegenwärtig. Die Straße ward ruhiger. Ich wandelte nachdenkend unter den Bäumen des vor mir liegenden freien Platzes auf und nieder; das Wesen der Bäuerin, ihr bestimmter ernster Ton, ihre Sicherheit im Leben, das sie acht und achtzigmal mit seinen Jahreszeiten hatte zurückkehren sehen, und das ihr nur wie ein Vorsaal im Bethause erschien, hatten mich mannigfach erschüttert. Was sind alle Leiden, alle

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:27:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T13:27:19Z)

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Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/11>, abgerufen am 29.03.2024.