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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Die Schildkröten. Landschildkröten.
hat", schreibt mir Erber, "war die Beobachtung, daß sie mit Vorliebe Menschenkoth frißt. Jch
fand oft größere Gesellschaften von ihr, welche sich wegen dieses ekelhaften Gerichtes versammelt
hatten." Die Gefangenen nehmen Salat, Kleie, Mehl und Regenwürmer zu sich, halten sich
bei diesem einfachen Futter vortrefflich, falls man sie vor den Einwirkungen der Kälte schützt,
und sollen bis sechzig Jahre in der Gefangenschaft ausdauern. "Eine Landschildkröte", erzählt
White, "welche einer meiner Freunde über vierzig Jahre in einem umschlossenen Raume hielt,
und welche dann in meinen Besitz gekommen ist, vergräbt sich jährlich um die Mitte des November
und kommt Mitte Aprils wieder an das Tageslicht. Bei ihrem Erscheinen im Frühjahre zeigt sie
wenig Freßlust, später im Hochsommer frißt sie sehr viel, gegen den Herbst hin wiederum wenig und
bevor sie sich eingräbt, mehrere Wochen gar Nichts mehr. Milchige Pflanzen sind ihre Lieblingsspeise.
Wenn sie im Herbste ihre Höhle gräbt, kratzt sie äußerst langsam und bedächtig mit den Vorderbeinen
die Erde los und zurück und schiebt sie dann mit dem Hinterbeine noch weiter weg. Vor Regengüssen
fürchtet sie sich: an nassen Tagen bleibt sie auch den ganzen Tag verborgen. Bei gutem Wetter geht
sie im Hochsommer gegen vier Uhr nachmittags zur Ruhe, und am nächsten Morgen kommt sie erst
ziemlich spät wieder hervor. Bei sehr großer Hitze sucht sie zuweilen den Schatten auf; gewöhnlich
[Abbildung] Die griechische Schildkräte (Testudo graeca).
aber labt sie sich mit Behagen an der Sonnenwärme." -- Reichenbach beobachtete, daß die
Gefangenen dieser Art, welche er im botanischen Garten zu Dresden hielt, weit umherwanderten,
stets aber dieselbe Bahn einhielten und sich, wenn es kühler wurde oder die Sonne nicht schien,
immer wieder unter einer bestimmten breitblätterigen Pflanze wiederfanden. Jm Herbste gruben sie
sich ein, im Frühjahre erschienen sie, als die Syngenesisten ausgetrieben hatten, um von deren Blättern
sich zu nähren.

Gefangene, welche längere Zeit einer Kälte unter Null ausgesetzt werden, gehen bald zu Grunde,
so unempfindlich im übrigen sie sich zeigen. Ohne Schaden können sie fast ein Jahr lang fasten und
Verwundungen der fürchterlichsten Art mit einer uns unbegreiflichen Gleichgültigkeit ertragen. Nimmt
man ihnen das bohnengroße Gehirn heraus, so laufen sie noch sechs Monate umher; schneidet man
ihnen den Kopf ab, so bewegt sich das Herz noch vierzehn Tage lang, und der abgeschnittene Kopf
beißt noch nach einer halben Stunde.

Lippi hat verschiedene, hierauf bezügliche Versuche angestellt und Orioli darüber berichtet.
Man hatte zwei Schildkröten ihres Hirnes beraubt und den Blutfluß bei der einen durch Brennen
der Gefäße, bei der anderen durch einen Ueberzug von Gips gestillt. Beide bewegten sich nach dieser
Operation noch willkürlich und konnten gehen; da aber die Glieder der linken Seite gelähmt waren,

Die Schildkröten. Landſchildkröten.
hat“, ſchreibt mir Erber, „war die Beobachtung, daß ſie mit Vorliebe Menſchenkoth frißt. Jch
fand oft größere Geſellſchaften von ihr, welche ſich wegen dieſes ekelhaften Gerichtes verſammelt
hatten.“ Die Gefangenen nehmen Salat, Kleie, Mehl und Regenwürmer zu ſich, halten ſich
bei dieſem einfachen Futter vortrefflich, falls man ſie vor den Einwirkungen der Kälte ſchützt,
und ſollen bis ſechzig Jahre in der Gefangenſchaft ausdauern. „Eine Landſchildkröte“, erzählt
White, „welche einer meiner Freunde über vierzig Jahre in einem umſchloſſenen Raume hielt,
und welche dann in meinen Beſitz gekommen iſt, vergräbt ſich jährlich um die Mitte des November
und kommt Mitte Aprils wieder an das Tageslicht. Bei ihrem Erſcheinen im Frühjahre zeigt ſie
wenig Freßluſt, ſpäter im Hochſommer frißt ſie ſehr viel, gegen den Herbſt hin wiederum wenig und
bevor ſie ſich eingräbt, mehrere Wochen gar Nichts mehr. Milchige Pflanzen ſind ihre Lieblingsſpeiſe.
Wenn ſie im Herbſte ihre Höhle gräbt, kratzt ſie äußerſt langſam und bedächtig mit den Vorderbeinen
die Erde los und zurück und ſchiebt ſie dann mit dem Hinterbeine noch weiter weg. Vor Regengüſſen
fürchtet ſie ſich: an naſſen Tagen bleibt ſie auch den ganzen Tag verborgen. Bei gutem Wetter geht
ſie im Hochſommer gegen vier Uhr nachmittags zur Ruhe, und am nächſten Morgen kommt ſie erſt
ziemlich ſpät wieder hervor. Bei ſehr großer Hitze ſucht ſie zuweilen den Schatten auf; gewöhnlich
[Abbildung] Die griechiſche Schildkräte (Testudo graeca).
aber labt ſie ſich mit Behagen an der Sonnenwärme.“ — Reichenbach beobachtete, daß die
Gefangenen dieſer Art, welche er im botaniſchen Garten zu Dresden hielt, weit umherwanderten,
ſtets aber dieſelbe Bahn einhielten und ſich, wenn es kühler wurde oder die Sonne nicht ſchien,
immer wieder unter einer beſtimmten breitblätterigen Pflanze wiederfanden. Jm Herbſte gruben ſie
ſich ein, im Frühjahre erſchienen ſie, als die Syngeneſiſten ausgetrieben hatten, um von deren Blättern
ſich zu nähren.

Gefangene, welche längere Zeit einer Kälte unter Null ausgeſetzt werden, gehen bald zu Grunde,
ſo unempfindlich im übrigen ſie ſich zeigen. Ohne Schaden können ſie faſt ein Jahr lang faſten und
Verwundungen der fürchterlichſten Art mit einer uns unbegreiflichen Gleichgültigkeit ertragen. Nimmt
man ihnen das bohnengroße Gehirn heraus, ſo laufen ſie noch ſechs Monate umher; ſchneidet man
ihnen den Kopf ab, ſo bewegt ſich das Herz noch vierzehn Tage lang, und der abgeſchnittene Kopf
beißt noch nach einer halben Stunde.

Lippi hat verſchiedene, hierauf bezügliche Verſuche angeſtellt und Orioli darüber berichtet.
Man hatte zwei Schildkröten ihres Hirnes beraubt und den Blutfluß bei der einen durch Brennen
der Gefäße, bei der anderen durch einen Ueberzug von Gips geſtillt. Beide bewegten ſich nach dieſer
Operation noch willkürlich und konnten gehen; da aber die Glieder der linken Seite gelähmt waren,

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[24/0036] Die Schildkröten. Landſchildkröten. hat“, ſchreibt mir Erber, „war die Beobachtung, daß ſie mit Vorliebe Menſchenkoth frißt. Jch fand oft größere Geſellſchaften von ihr, welche ſich wegen dieſes ekelhaften Gerichtes verſammelt hatten.“ Die Gefangenen nehmen Salat, Kleie, Mehl und Regenwürmer zu ſich, halten ſich bei dieſem einfachen Futter vortrefflich, falls man ſie vor den Einwirkungen der Kälte ſchützt, und ſollen bis ſechzig Jahre in der Gefangenſchaft ausdauern. „Eine Landſchildkröte“, erzählt White, „welche einer meiner Freunde über vierzig Jahre in einem umſchloſſenen Raume hielt, und welche dann in meinen Beſitz gekommen iſt, vergräbt ſich jährlich um die Mitte des November und kommt Mitte Aprils wieder an das Tageslicht. Bei ihrem Erſcheinen im Frühjahre zeigt ſie wenig Freßluſt, ſpäter im Hochſommer frißt ſie ſehr viel, gegen den Herbſt hin wiederum wenig und bevor ſie ſich eingräbt, mehrere Wochen gar Nichts mehr. Milchige Pflanzen ſind ihre Lieblingsſpeiſe. Wenn ſie im Herbſte ihre Höhle gräbt, kratzt ſie äußerſt langſam und bedächtig mit den Vorderbeinen die Erde los und zurück und ſchiebt ſie dann mit dem Hinterbeine noch weiter weg. Vor Regengüſſen fürchtet ſie ſich: an naſſen Tagen bleibt ſie auch den ganzen Tag verborgen. Bei gutem Wetter geht ſie im Hochſommer gegen vier Uhr nachmittags zur Ruhe, und am nächſten Morgen kommt ſie erſt ziemlich ſpät wieder hervor. Bei ſehr großer Hitze ſucht ſie zuweilen den Schatten auf; gewöhnlich [Abbildung Die griechiſche Schildkräte (Testudo graeca).] aber labt ſie ſich mit Behagen an der Sonnenwärme.“ — Reichenbach beobachtete, daß die Gefangenen dieſer Art, welche er im botaniſchen Garten zu Dresden hielt, weit umherwanderten, ſtets aber dieſelbe Bahn einhielten und ſich, wenn es kühler wurde oder die Sonne nicht ſchien, immer wieder unter einer beſtimmten breitblätterigen Pflanze wiederfanden. Jm Herbſte gruben ſie ſich ein, im Frühjahre erſchienen ſie, als die Syngeneſiſten ausgetrieben hatten, um von deren Blättern ſich zu nähren. Gefangene, welche längere Zeit einer Kälte unter Null ausgeſetzt werden, gehen bald zu Grunde, ſo unempfindlich im übrigen ſie ſich zeigen. Ohne Schaden können ſie faſt ein Jahr lang faſten und Verwundungen der fürchterlichſten Art mit einer uns unbegreiflichen Gleichgültigkeit ertragen. Nimmt man ihnen das bohnengroße Gehirn heraus, ſo laufen ſie noch ſechs Monate umher; ſchneidet man ihnen den Kopf ab, ſo bewegt ſich das Herz noch vierzehn Tage lang, und der abgeſchnittene Kopf beißt noch nach einer halben Stunde. Lippi hat verſchiedene, hierauf bezügliche Verſuche angeſtellt und Orioli darüber berichtet. Man hatte zwei Schildkröten ihres Hirnes beraubt und den Blutfluß bei der einen durch Brennen der Gefäße, bei der anderen durch einen Ueberzug von Gips geſtillt. Beide bewegten ſich nach dieſer Operation noch willkürlich und konnten gehen; da aber die Glieder der linken Seite gelähmt waren,

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/36>, abgerufen am 28.03.2024.