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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Bewegungen. Lebenszähigkeit. Geistiges Wesen.
tauchte, blieben eine halbe Stunde am Leben, solche, denen man das Maul fest zuschnürte und die
Nasenlöcher versiegelte, einen ganzen Monat lang, diejenigen, welche man in kohlensaure Luft setzte,
hielten wenigstens viel länger aus als warmblütige Thiere. Boyle brachte eine Viper unter die
Luftpumpe und leerte die Luft aus; ihr Körper und Hals blähten sich auf, die Kinnladen öffneten sich,
die Stimmritze stand bis an den Rand der Unterkinnlade vor, und die Zunge wurde weit ausgestreckt.
Eine halbe Stunde nach Beginn dieser Thierquälerei bemerkte man noch Lebenszeichen. Als dreiund-
zwanzig Stunden später die Luft zugelassen wurde, schloß die Viper den Mund und öffnete ihn wieder,
und wenn man sie in den Schwanz kneipte, bewegte sie sich noch etwas. Eine Natter lebte im luft-
leeren Raume über elf Stunden. Aehnliche Ergebnisse erzielte man durch andere Versuche: Schild-
kröten, welche man des Kopfes beraubte, bewegten noch nach elf Tagen die Glieder. Eines dieser
Thiere, dem man das Herz und alle Eingeweide weggenommen und den Brustschild weggerissen hatte,
kehrte sich am anderen Tage von selbst um und kroch davon. Der abgeschnittene Kopf einer Klapper-
schlange oder Viper versucht zu beißen; der abgehauene Kopf einer Schildkröte packt noch einen Tag
nach der Hinrichtung einen entgegengehaltenen Stock. Alle diese Versuche beweisen, daß das Hirn
der Kriechthiere die Thätigkeit des Leibes nicht in demselben Grade regelt, wie Dies bei den höheren
Thieren der Fall, daß im Gegentheile jedes Glied mehr oder weniger von dem anderen unabhängig ist.
Hiermit hängt die Ersatzfähigkeit unserer Thiere zusammen. Eidechsen und Schlangen, denen man
den Schwanz, die Füße u. s. w. abhaut, ersetzen diese wieder, und Wunden, welche höheren Thieren
unbedingt tödtlich sein würden, heilen bei jenen, Verunstaltungen üben bei ihnen kaum einen Einfluß
auf das Leben aus.

Jede Lebensthätigkeit der Kriechthiere steigert sich mit der zunehmenden Außenwärme; daher ist
dieselbe Schlange an einem heißen Sommertage eine ganz andere als an einem kühlen. Die Werk-
zeuge der Athmung und des Blutumlaufs sind nicht vermögend, dem Kriechthiere eine innere Wärme
zu geben: deshalb eben ist es von der äußeren völlig abhängig. Dies erklärt es auch, daß alle
diejenigen Arten, welche kältere Gegenden bewohnen, während der Wintermonate in Erstarrung fallen
oder einen Winterschlaf halten müssen; die Kälte würde sie vernichten, wäre Dies nicht der Fall.

Schon aus dem bisher Mitgetheilten läßt sich folgern, daß die geistigen Fähigkeiten der Kriech-
thiere überaus gering sein müssen. Ein Geschöpf, in dessen Körper das Hirn so wenig zur Herrschaft
gelangt, kann diejenigen Fähigkeiten dieses Hirns, welche wir Verstand nennen, unmöglich in höherem
Grade besitzen. Die geistigen Fähigkeiten stehen zwar nicht im geraden, aber doch in einem gewissen
Verhältnisse zur Größe des Hirns, und wenn man nun weiß, daß das Menschenhirn ungefähr den
vierzigsten Theil von dessen Körpergewicht beträgt, das Hirn einer Schildkröte aber sich dem Gewichte
nach zur Leibesmasse verhält wie 1:1850, gewinnt man doch einen Maßstab zur Schätzung der
Fähigkeiten dieses Thieres. Nicht blos die geringe Entwicklung, die Unvollendung des Hirns,
sondern auch seine geringe Masse stellt die Kriechthiere geistig so tief. Alle höheren Eigenschaften
sind bei ihnen im günstigsten Falle angedeutet: sie sind mehr oder weniger zu einer willenlosen
Maschine geworden. "Kaum Unterscheidungsvermögen macht sich", wie ich schon an einem anderen
Orte gesagt habe, "bei allen Mitgliedern der Klasse bemerklich. Sinnestäuschungen, mit anderen
Worten, mangelhaftes Verständniß irgend welchen Reizes von außen her, wird bei ihnen häufig
beobachtet; nur die einfachsten, niedersten Regungen des Geistes werden erkenntlich: von eigentlichem
Verstande ist kaum zu reden. Ein gewisser Ortssinn, eine beschränkte Erkenntniß des Freßbaren oder
Ungenießbaren, des Nützlichen also und des Schädlichen, auch wohl Erkenntniß des Feindlichen und
eine sinnliche Leidenschaft endlich: Das sind die Beweise der geistigen Fähigkeiten. Die Steigerung
derselben innerhalb der äußerlich so verschiedenen Thierreihe ist höchst gering. Bildsamkeit des
Geistes, Ansammeln von einigen Erfahrungen und zweckdienliches Handeln in Folge derselben ist bei
den höchststehenden Gliedern beobachtet worden, eine gewisse Fürsorge rücksichtlich der Nachkommen-
schaft -- meist wohl nur Folge eines mit der Geschlechtsthätigkeit zusammenhängenden Reizes -- bei
anderen, Erregbarkeit, welche man als Zorn, Bosheit, Tücke gedeutet, bei vielen, bewußtes Abwägen

Bewegungen. Lebenszähigkeit. Geiſtiges Weſen.
tauchte, blieben eine halbe Stunde am Leben, ſolche, denen man das Maul feſt zuſchnürte und die
Naſenlöcher verſiegelte, einen ganzen Monat lang, diejenigen, welche man in kohlenſaure Luft ſetzte,
hielten wenigſtens viel länger aus als warmblütige Thiere. Boyle brachte eine Viper unter die
Luftpumpe und leerte die Luft aus; ihr Körper und Hals blähten ſich auf, die Kinnladen öffneten ſich,
die Stimmritze ſtand bis an den Rand der Unterkinnlade vor, und die Zunge wurde weit ausgeſtreckt.
Eine halbe Stunde nach Beginn dieſer Thierquälerei bemerkte man noch Lebenszeichen. Als dreiund-
zwanzig Stunden ſpäter die Luft zugelaſſen wurde, ſchloß die Viper den Mund und öffnete ihn wieder,
und wenn man ſie in den Schwanz kneipte, bewegte ſie ſich noch etwas. Eine Natter lebte im luft-
leeren Raume über elf Stunden. Aehnliche Ergebniſſe erzielte man durch andere Verſuche: Schild-
kröten, welche man des Kopfes beraubte, bewegten noch nach elf Tagen die Glieder. Eines dieſer
Thiere, dem man das Herz und alle Eingeweide weggenommen und den Bruſtſchild weggeriſſen hatte,
kehrte ſich am anderen Tage von ſelbſt um und kroch davon. Der abgeſchnittene Kopf einer Klapper-
ſchlange oder Viper verſucht zu beißen; der abgehauene Kopf einer Schildkröte packt noch einen Tag
nach der Hinrichtung einen entgegengehaltenen Stock. Alle dieſe Verſuche beweiſen, daß das Hirn
der Kriechthiere die Thätigkeit des Leibes nicht in demſelben Grade regelt, wie Dies bei den höheren
Thieren der Fall, daß im Gegentheile jedes Glied mehr oder weniger von dem anderen unabhängig iſt.
Hiermit hängt die Erſatzfähigkeit unſerer Thiere zuſammen. Eidechſen und Schlangen, denen man
den Schwanz, die Füße u. ſ. w. abhaut, erſetzen dieſe wieder, und Wunden, welche höheren Thieren
unbedingt tödtlich ſein würden, heilen bei jenen, Verunſtaltungen üben bei ihnen kaum einen Einfluß
auf das Leben aus.

Jede Lebensthätigkeit der Kriechthiere ſteigert ſich mit der zunehmenden Außenwärme; daher iſt
dieſelbe Schlange an einem heißen Sommertage eine ganz andere als an einem kühlen. Die Werk-
zeuge der Athmung und des Blutumlaufs ſind nicht vermögend, dem Kriechthiere eine innere Wärme
zu geben: deshalb eben iſt es von der äußeren völlig abhängig. Dies erklärt es auch, daß alle
diejenigen Arten, welche kältere Gegenden bewohnen, während der Wintermonate in Erſtarrung fallen
oder einen Winterſchlaf halten müſſen; die Kälte würde ſie vernichten, wäre Dies nicht der Fall.

Schon aus dem bisher Mitgetheilten läßt ſich folgern, daß die geiſtigen Fähigkeiten der Kriech-
thiere überaus gering ſein müſſen. Ein Geſchöpf, in deſſen Körper das Hirn ſo wenig zur Herrſchaft
gelangt, kann diejenigen Fähigkeiten dieſes Hirns, welche wir Verſtand nennen, unmöglich in höherem
Grade beſitzen. Die geiſtigen Fähigkeiten ſtehen zwar nicht im geraden, aber doch in einem gewiſſen
Verhältniſſe zur Größe des Hirns, und wenn man nun weiß, daß das Menſchenhirn ungefähr den
vierzigſten Theil von deſſen Körpergewicht beträgt, das Hirn einer Schildkröte aber ſich dem Gewichte
nach zur Leibesmaſſe verhält wie 1:1850, gewinnt man doch einen Maßſtab zur Schätzung der
Fähigkeiten dieſes Thieres. Nicht blos die geringe Entwicklung, die Unvollendung des Hirns,
ſondern auch ſeine geringe Maſſe ſtellt die Kriechthiere geiſtig ſo tief. Alle höheren Eigenſchaften
ſind bei ihnen im günſtigſten Falle angedeutet: ſie ſind mehr oder weniger zu einer willenloſen
Maſchine geworden. „Kaum Unterſcheidungsvermögen macht ſich“, wie ich ſchon an einem anderen
Orte geſagt habe, „bei allen Mitgliedern der Klaſſe bemerklich. Sinnestäuſchungen, mit anderen
Worten, mangelhaftes Verſtändniß irgend welchen Reizes von außen her, wird bei ihnen häufig
beobachtet; nur die einfachſten, niederſten Regungen des Geiſtes werden erkenntlich: von eigentlichem
Verſtande iſt kaum zu reden. Ein gewiſſer Ortsſinn, eine beſchränkte Erkenntniß des Freßbaren oder
Ungenießbaren, des Nützlichen alſo und des Schädlichen, auch wohl Erkenntniß des Feindlichen und
eine ſinnliche Leidenſchaft endlich: Das ſind die Beweiſe der geiſtigen Fähigkeiten. Die Steigerung
derſelben innerhalb der äußerlich ſo verſchiedenen Thierreihe iſt höchſt gering. Bildſamkeit des
Geiſtes, Anſammeln von einigen Erfahrungen und zweckdienliches Handeln in Folge derſelben iſt bei
den höchſtſtehenden Gliedern beobachtet worden, eine gewiſſe Fürſorge rückſichtlich der Nachkommen-
ſchaft — meiſt wohl nur Folge eines mit der Geſchlechtsthätigkeit zuſammenhängenden Reizes — bei
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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/21>, abgerufen am 20.04.2024.