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Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

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stand Deutschlands herbeigeführt und die politische Einheit des-
selben vorbereitet haben.

Dann aber ist die Freizügigkeit weiter ausgebaut worden
durch das Gesetz Friedrich Wilhelms IV. über die Aufnahme neu
anziehender Personen, und der Unterstützungswohnsitz und durch
das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. De-
cember 1842, also zu einer Zeit, wo es weder einen preußischen
Landtag gab noch einen deutschen Reichstag, sondern wo der
König aus eigener Initiative die Gesetzgebung regelte.

Wenn man nun sagt, "wer wird es leugnen, daß die Gesetz-
gebung in den letzten Jahrzehnten, also seit 1865 den Volksgeist
verwirrt hat und daß das Unterstützungswohnsitzgesetz die Vaga-
bondage befördert hat", so scheint man nicht zu wissen, daß das
Unterstützungswohnsitzgesetz für Preußen nach seinem wesent-
lichen Inhalt schon seit 1842 besteht.

Doch ich will diesen Gegenstand nicht weiter verfolgen.

Ich möchte meine Ausführungen dadurch ergänzen, daß
ich Ihnen die Geschichte der Vagabondage in Deutschland, zu
der ich ein reichliches Material gesammelt habe, im Umriß vor-
führe. Allein die Zeit erlaubt es nicht. Ich werde daher diese
historische Skizze in der "Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft
und Kulturgeschichte" publiciren, worauf ich Sie im Voraus zu
verweisen mir hierdurch erlaube.

Hier will ich mich auf folgende Bemerkungen beschränken:

Die Geschichte lehrt uns, daß die Vagabondage periodisch
steigt und fällt, daß sie in Deutschland in früheren Jahrhunderten
weit schlimmer grassirt hat als gegenwärtig, und daß sie über-
haupt mit der steigenden Kultur-Entwickelung immer mehr ab-
nimmt, unbeschadet jedoch der bereits erwähnten periodischen
wellenförmigen Bewegung des Steigens und Fallens innerhalb
dieser im Ganzen von Jahrhundert zu Jahrhundert sinkenden
Scala.

Die Geschichte zeigt uns ferner, daß eine Anzahl von Er-
eignissen und Zuständen geeignet sind, die Vagabondage jedes
Mal zu steigern. Dahin gehören: Wirthschaftliche Krisen, große
politische und religiöse Exaltationen, durchgreifende Aenderungen
der Gesetzgebung, welche gewisse Schwierigkeiten für das un-
vermeidliche Uebergangsstadium herbeiführen, Hin- und Her-

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stand Deutschlands herbeigeführt und die politische Einheit des-
selben vorbereitet haben.

Dann aber ist die Freizügigkeit weiter ausgebaut worden
durch das Gesetz Friedrich Wilhelms IV. über die Aufnahme neu
anziehender Personen, und der Unterstützungswohnsitz und durch
das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. De-
cember 1842, also zu einer Zeit, wo es weder einen preußischen
Landtag gab noch einen deutschen Reichstag, sondern wo der
König aus eigener Initiative die Gesetzgebung regelte.

Wenn man nun sagt, «wer wird es leugnen, daß die Gesetz-
gebung in den letzten Jahrzehnten, also seit 1865 den Volksgeist
verwirrt hat und daß das Unterstützungswohnsitzgesetz die Vaga-
bondage befördert hat», so scheint man nicht zu wissen, daß das
Unterstützungswohnsitzgesetz für Preußen nach seinem wesent-
lichen Inhalt schon seit 1842 besteht.

Doch ich will diesen Gegenstand nicht weiter verfolgen.

Ich möchte meine Ausführungen dadurch ergänzen, daß
ich Ihnen die Geschichte der Vagabondage in Deutschland, zu
der ich ein reichliches Material gesammelt habe, im Umriß vor-
führe. Allein die Zeit erlaubt es nicht. Ich werde daher diese
historische Skizze in der «Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft
und Kulturgeschichte» publiciren, worauf ich Sie im Voraus zu
verweisen mir hierdurch erlaube.

Hier will ich mich auf folgende Bemerkungen beschränken:

Die Geschichte lehrt uns, daß die Vagabondage periodisch
steigt und fällt, daß sie in Deutschland in früheren Jahrhunderten
weit schlimmer grassirt hat als gegenwärtig, und daß sie über-
haupt mit der steigenden Kultur-Entwickelung immer mehr ab-
nimmt, unbeschadet jedoch der bereits erwähnten periodischen
wellenförmigen Bewegung des Steigens und Fallens innerhalb
dieser im Ganzen von Jahrhundert zu Jahrhundert sinkenden
Scala.

Die Geschichte zeigt uns ferner, daß eine Anzahl von Er-
eignissen und Zuständen geeignet sind, die Vagabondage jedes
Mal zu steigern. Dahin gehören: Wirthschaftliche Krisen, große
politische und religiöse Exaltationen, durchgreifende Aenderungen
der Gesetzgebung, welche gewisse Schwierigkeiten für das un-
vermeidliche Uebergangsstadium herbeiführen, Hin- und Her-

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[33/0035] stand Deutschlands herbeigeführt und die politische Einheit des- selben vorbereitet haben. Dann aber ist die Freizügigkeit weiter ausgebaut worden durch das Gesetz Friedrich Wilhelms IV. über die Aufnahme neu anziehender Personen, und der Unterstützungswohnsitz und durch das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. De- cember 1842, also zu einer Zeit, wo es weder einen preußischen Landtag gab noch einen deutschen Reichstag, sondern wo der König aus eigener Initiative die Gesetzgebung regelte. Wenn man nun sagt, «wer wird es leugnen, daß die Gesetz- gebung in den letzten Jahrzehnten, also seit 1865 den Volksgeist verwirrt hat und daß das Unterstützungswohnsitzgesetz die Vaga- bondage befördert hat», so scheint man nicht zu wissen, daß das Unterstützungswohnsitzgesetz für Preußen nach seinem wesent- lichen Inhalt schon seit 1842 besteht. Doch ich will diesen Gegenstand nicht weiter verfolgen. Ich möchte meine Ausführungen dadurch ergänzen, daß ich Ihnen die Geschichte der Vagabondage in Deutschland, zu der ich ein reichliches Material gesammelt habe, im Umriß vor- führe. Allein die Zeit erlaubt es nicht. Ich werde daher diese historische Skizze in der «Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft und Kulturgeschichte» publiciren, worauf ich Sie im Voraus zu verweisen mir hierdurch erlaube. Hier will ich mich auf folgende Bemerkungen beschränken: Die Geschichte lehrt uns, daß die Vagabondage periodisch steigt und fällt, daß sie in Deutschland in früheren Jahrhunderten weit schlimmer grassirt hat als gegenwärtig, und daß sie über- haupt mit der steigenden Kultur-Entwickelung immer mehr ab- nimmt, unbeschadet jedoch der bereits erwähnten periodischen wellenförmigen Bewegung des Steigens und Fallens innerhalb dieser im Ganzen von Jahrhundert zu Jahrhundert sinkenden Scala. Die Geschichte zeigt uns ferner, daß eine Anzahl von Er- eignissen und Zuständen geeignet sind, die Vagabondage jedes Mal zu steigern. Dahin gehören: Wirthschaftliche Krisen, große politische und religiöse Exaltationen, durchgreifende Aenderungen der Gesetzgebung, welche gewisse Schwierigkeiten für das un- vermeidliche Uebergangsstadium herbeiführen, Hin- und Her- 3

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Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/35>, abgerufen am 28.03.2024.