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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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Kapitel 4. Sprachbewegung. pbo_041.002
(Figuren.)
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§ 33. Der poetische Satz.

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Ebenso wie im Ausdruck an und für sich sehen wir in pbo_041.005
seiner Aneinanderreihung im Satze die poetische Sprache stets pbo_041.006
darauf aus bedacht, mit dem ursprünglichen Leben und Empfinden, pbo_041.007
welches ihre Formen schuf, in genauester Fühlung zu bleiben. pbo_041.008
Jm geordneten Satze kommt der Ausdruck in Bewegung, die pbo_041.009
Sprache in Fluß. Besondere Formen dieser Sprachbewegung pbo_041.010
sind es nun, welche die alten Grammatiker mit pbo_041.011
Beziehung auf die geordneten Formen der thatsächlichen körperlichen pbo_041.012
Bewegung (im Tanze) hier ganz treffend als Figuren pbo_041.013
bezeichnet haben. Nur daß sie auch hier im Aussondern und pbo_041.014
Bezeichnen ihres richtig begriffenen Vorwurfs sehr unglücklich pbo_041.015
verfahren sind. Das Ergebnis davon ist die lächerliche Verwirrung, pbo_041.016
die in dem Schwalle "grammatischer und rhetorischer, pbo_041.017
Wort- und Sinnfiguren" der poetischen Kompendien herrscht.

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§ 34. Allgemeine Bedeutung der Figuration für die Rede.

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Zunächst muß man die dadurch leicht bewirkte Schulmeinung pbo_041.020
überwinden, als handle es sich hier um außerordentliche pbo_041.021
Kunststücke, die nur vom Poeten oder Redner exekutiert pbo_041.022
werden. Wie man sich leicht bei Durchmusterung dieses ganzen, pbo_041.023
stellenweise recht seltsamen Registers überzeugen wird, giebt pbo_041.024
es keine Figur, die nicht im gewöhnlichen Sprachverkehr unter pbo_041.025
ihren gegebenen Bedingungen vorkäme. Manche Verkehrssprachen pbo_041.026
bevorzugen und pflegen bekanntlich gewisse Redefiguren, pbo_041.027
wie die der Studenten die Hyperbel, die der Juden die Frageform pbo_041.028
(interrogatio), die der Diplomaten die Litotes u. s. w. pbo_041.029
Die kunstmäßige Rede thut nichts weiter, als daß sie diese pbo_041.030
von allen geübten Redeformen nach ihrer ursprünglich gedachten

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welches ihre Formen schuf, in genauester Fühlung zu bleiben. pbo_041.008
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sind es nun, welche die alten Grammatiker mit pbo_041.011
Beziehung auf die geordneten Formen der thatsächlichen körperlichen pbo_041.012
Bewegung (im Tanze) hier ganz treffend als Figuren pbo_041.013
bezeichnet haben. Nur daß sie auch hier im Aussondern und pbo_041.014
Bezeichnen ihres richtig begriffenen Vorwurfs sehr unglücklich pbo_041.015
verfahren sind. Das Ergebnis davon ist die lächerliche Verwirrung, pbo_041.016
die in dem Schwalle „grammatischer und rhetorischer, pbo_041.017
Wort- und Sinnfiguren“ der poetischen Kompendien herrscht.

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§ 34. Allgemeine Bedeutung der Figuration für die Rede.

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Zunächst muß man die dadurch leicht bewirkte Schulmeinung pbo_041.020
überwinden, als handle es sich hier um außerordentliche pbo_041.021
Kunststücke, die nur vom Poeten oder Redner exekutiert pbo_041.022
werden. Wie man sich leicht bei Durchmusterung dieses ganzen, pbo_041.023
stellenweise recht seltsamen Registers überzeugen wird, giebt pbo_041.024
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ihren gegebenen Bedingungen vorkäme. Manche Verkehrssprachen pbo_041.026
bevorzugen und pflegen bekanntlich gewisse Redefiguren, pbo_041.027
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/45>, abgerufen am 29.03.2024.