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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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§ 32. Grammatische Grundfunktionen des Wortes in pbo_040.002
poetischer Verwendung.

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Das Beiwort, die Wurzel des poetischen Vergleiches, pbo_040.004
führt also unmittelbar auf das Wort selbst, den Baugrund pbo_040.005
der Sprache, und zwar ganz folgerichtig auf das Wort in pbo_040.006
seinen beiden grammatischen Grundfunktionen als Substantiv pbo_040.007
und als Verbum. Die poetische Sprache zeigt darin schon pbo_040.008
ihre unmittelbare Fühlung mit der Sprachschöpfung, daß sie pbo_040.009
diese lebendigen Triebkräfte der Sprache möglichst zur Geltung pbo_040.010
bringt gegenüber den übrigen erst durch immer schärfere und pbo_040.011
feinere Abstraktion aus ihnen gewonnenen Redeteilen, den pbo_040.012
Vertretern des Urteils und der reinen Kategorien des Denkens. pbo_040.013
Die poetische Sprache umgeht also, ganz verschieden von der pbo_040.014
Sprache der Konvention, Partikeln, Umstands- und Verhältniswörter pbo_040.015
in ihrem trockenen, verallgemeinernden Gebrauch. Sie pbo_040.016
hilft sich lieber mit einer gegenständlichen Beschreibung, einer pbo_040.017
sinnlichen Umschreibung, einem entschiedenen Zusatz. Sie vermeidet pbo_040.018
aus diesem Grunde die hypothetischen Formen des pbo_040.019
Zeitworts in ihrem Abhängigkeitsverhältnis von unterordnenden pbo_040.020
Konjunktionen und zieht die abrupte Einführung des abhängigen pbo_040.021
Verbums vor. Nicht: "ich sage, daß ich es gethan habe" pbo_040.022
sondern "ich sag', ich hab's gethan". Nur aus diesem Grunde pbo_040.023
vermeidet sie das Hilfsverb in seiner rein kategorischen Verwendung pbo_040.024
in der Konjugation. Nur darum giebt sie die damit pbo_040.025
gebildeten Formen des Perfekts, des Passivs gern verkürzt pbo_040.026
mit der Ellipse des Hilfsverbs oder in sinnlicher Verstärkung pbo_040.027
durch ein selbständiges Verb. "Was ich verbrochen" nicht: pbo_040.028
"was ich verbrochen habe." "Versunken und vergessen!" nicht pbo_040.029
"er ist versunken und vergessen", "ihr liegt verödet" statt pbo_040.030
"ihr seid verödet."

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§ 32. Grammatische Grundfunktionen des Wortes in pbo_040.002
poetischer Verwendung.

pbo_040.003
Das Beiwort, die Wurzel des poetischen Vergleiches, pbo_040.004
führt also unmittelbar auf das Wort selbst, den Baugrund pbo_040.005
der Sprache, und zwar ganz folgerichtig auf das Wort in pbo_040.006
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und als Verbum. Die poetische Sprache zeigt darin schon pbo_040.008
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diese lebendigen Triebkräfte der Sprache möglichst zur Geltung pbo_040.010
bringt gegenüber den übrigen erst durch immer schärfere und pbo_040.011
feinere Abstraktion aus ihnen gewonnenen Redeteilen, den pbo_040.012
Vertretern des Urteils und der reinen Kategorien des Denkens. pbo_040.013
Die poetische Sprache umgeht also, ganz verschieden von der pbo_040.014
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in ihrem trockenen, verallgemeinernden Gebrauch. Sie pbo_040.016
hilft sich lieber mit einer gegenständlichen Beschreibung, einer pbo_040.017
sinnlichen Umschreibung, einem entschiedenen Zusatz. Sie vermeidet pbo_040.018
aus diesem Grunde die hypothetischen Formen des pbo_040.019
Zeitworts in ihrem Abhängigkeitsverhältnis von unterordnenden pbo_040.020
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Verbums vor. Nicht: „ich sage, daß ich es gethan habe“ pbo_040.022
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durch ein selbständiges Verb. „Was ich verbrochen“ nicht: pbo_040.028
„was ich verbrochen habe.“ „Versunken und vergessen!“ nicht pbo_040.029
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[40/0044] pbo_040.001 § 32. Grammatische Grundfunktionen des Wortes in pbo_040.002 poetischer Verwendung. pbo_040.003 Das Beiwort, die Wurzel des poetischen Vergleiches, pbo_040.004 führt also unmittelbar auf das Wort selbst, den Baugrund pbo_040.005 der Sprache, und zwar ganz folgerichtig auf das Wort in pbo_040.006 seinen beiden grammatischen Grundfunktionen als Substantiv pbo_040.007 und als Verbum. Die poetische Sprache zeigt darin schon pbo_040.008 ihre unmittelbare Fühlung mit der Sprachschöpfung, daß sie pbo_040.009 diese lebendigen Triebkräfte der Sprache möglichst zur Geltung pbo_040.010 bringt gegenüber den übrigen erst durch immer schärfere und pbo_040.011 feinere Abstraktion aus ihnen gewonnenen Redeteilen, den pbo_040.012 Vertretern des Urteils und der reinen Kategorien des Denkens. pbo_040.013 Die poetische Sprache umgeht also, ganz verschieden von der pbo_040.014 Sprache der Konvention, Partikeln, Umstands- und Verhältniswörter pbo_040.015 in ihrem trockenen, verallgemeinernden Gebrauch. Sie pbo_040.016 hilft sich lieber mit einer gegenständlichen Beschreibung, einer pbo_040.017 sinnlichen Umschreibung, einem entschiedenen Zusatz. Sie vermeidet pbo_040.018 aus diesem Grunde die hypothetischen Formen des pbo_040.019 Zeitworts in ihrem Abhängigkeitsverhältnis von unterordnenden pbo_040.020 Konjunktionen und zieht die abrupte Einführung des abhängigen pbo_040.021 Verbums vor. Nicht: „ich sage, daß ich es gethan habe“ pbo_040.022 sondern „ich sag', ich hab's gethan“. Nur aus diesem Grunde pbo_040.023 vermeidet sie das Hilfsverb in seiner rein kategorischen Verwendung pbo_040.024 in der Konjugation. Nur darum giebt sie die damit pbo_040.025 gebildeten Formen des Perfekts, des Passivs gern verkürzt pbo_040.026 mit der Ellipse des Hilfsverbs oder in sinnlicher Verstärkung pbo_040.027 durch ein selbständiges Verb. „Was ich verbrochen“ nicht: pbo_040.028 „was ich verbrochen habe.“ „Versunken und vergessen!“ nicht pbo_040.029 „er ist versunken und vergessen“, „ihr liegt verödet“ statt pbo_040.030 „ihr seid verödet.“

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/44>, abgerufen am 28.03.2024.