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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

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[Gleich. 290] § 90. Anwendung auf das Universum.
Frage im bejahenden Sinne beantworten wollte, müsste als
Weltbild ein System benutzen, dessen zeitliche Veränderungen
durch Gleichungen gegeben werden, in denen die positive und
negative Zeitrichtung gleich berechtigt sind und mittelst dessen
doch durch eine besondere specielle Annahme der Schein der
Irreversibilität in langen Zeiträumen erklärbar ist. Dies trifft
aber gerade bei der atomistischen Weltanschauung zu.

Man kann sich die Welt als ein mechanisches System
von einer enorm grossen Anzahl von Bestandtheilen und von
enorm langer Dauer denken, so dass die Dimensionen unseres
Fixsternhimmels winzig gegen die Ausdehnung des Universums
und Zeiten, die wir Aeonen nennen, winzig gegen dessen Dauer
sind. Es müssen dann im Universum, das sonst überall im
Wärmegleichgewichte, also todt ist, hier und da solche ver-
hältnissmässig kleine Bezirke von der Ausdehnung unseres
Sternenraumes (nennen wir sie Einzelwelten) vorkommen, die
während der verhältnissmässig kurzen Zeit von Aeonen erheb-
lich vom Wärmegleichgewichte abweichen, und zwar ebenso
häufig solche, in denen die Zustandswahrscheinlichkeit gerade
zu- als abnimmt. Für das Universum sind also beide Rich-
tungen der Zeit ununterscheidbar, wie es im Raume kein Oben
oder Unten giebt. Aber wie wir an einer bestimmten Stelle
der Erdoberfläche die Richtung gegen den Erdmittelpunkt als
die Richtung nach unten bezeichnen, so wird ein Lebewesen,
das sich in einer bestimmten Zeitphase einer solchen Einzelwelt
befindet, die Zeitrichtung gegen die unwahrscheinlicheren Zustände
anders als die entgegengesetzte (erstere als die Vergangenheit,
den Anfang, letztere als die Zukunft, das Ende) bezeichnen
und vermöge dieser Benennung werden sich für dasselbe
kleine aus dem Universum isolirte Gebiete, "anfangs" immer in
einem unwahrscheinlichen Zustande befinden. Diese Methode
scheint mir die einzige, wonach man den 2. Hauptsatz, den
Wärmetod jeder Einzelwelt, ohne eine einseitige Aenderung
des ganzen Universums von einem bestimmten Anfangs- gegen
einen schliesslichen Endzustand denken kann.

Gewiss wird Niemand derartige Speculationen für wich-
tige Entdeckungen oder gar, wie es wohl die alten Philo-
sophen thaten, für das höchste Ziel der Wissenschaft halten.
Ob es aber gerechtfertigt ist, sie als etwas völlig müssiges zu

Boltzmann, Gastheorie II. 17

[Gleich. 290] § 90. Anwendung auf das Universum.
Frage im bejahenden Sinne beantworten wollte, müsste als
Weltbild ein System benutzen, dessen zeitliche Veränderungen
durch Gleichungen gegeben werden, in denen die positive und
negative Zeitrichtung gleich berechtigt sind und mittelst dessen
doch durch eine besondere specielle Annahme der Schein der
Irreversibilität in langen Zeiträumen erklärbar ist. Dies trifft
aber gerade bei der atomistischen Weltanschauung zu.

Man kann sich die Welt als ein mechanisches System
von einer enorm grossen Anzahl von Bestandtheilen und von
enorm langer Dauer denken, so dass die Dimensionen unseres
Fixsternhimmels winzig gegen die Ausdehnung des Universums
und Zeiten, die wir Aeonen nennen, winzig gegen dessen Dauer
sind. Es müssen dann im Universum, das sonst überall im
Wärmegleichgewichte, also todt ist, hier und da solche ver-
hältnissmässig kleine Bezirke von der Ausdehnung unseres
Sternenraumes (nennen wir sie Einzelwelten) vorkommen, die
während der verhältnissmässig kurzen Zeit von Aeonen erheb-
lich vom Wärmegleichgewichte abweichen, und zwar ebenso
häufig solche, in denen die Zustandswahrscheinlichkeit gerade
zu- als abnimmt. Für das Universum sind also beide Rich-
tungen der Zeit ununterscheidbar, wie es im Raume kein Oben
oder Unten giebt. Aber wie wir an einer bestimmten Stelle
der Erdoberfläche die Richtung gegen den Erdmittelpunkt als
die Richtung nach unten bezeichnen, so wird ein Lebewesen,
das sich in einer bestimmten Zeitphase einer solchen Einzelwelt
befindet, die Zeitrichtung gegen die unwahrscheinlicheren Zustände
anders als die entgegengesetzte (erstere als die Vergangenheit,
den Anfang, letztere als die Zukunft, das Ende) bezeichnen
und vermöge dieser Benennung werden sich für dasselbe
kleine aus dem Universum isolirte Gebiete, „anfangs“ immer in
einem unwahrscheinlichen Zustande befinden. Diese Methode
scheint mir die einzige, wonach man den 2. Hauptsatz, den
Wärmetod jeder Einzelwelt, ohne eine einseitige Aenderung
des ganzen Universums von einem bestimmten Anfangs- gegen
einen schliesslichen Endzustand denken kann.

Gewiss wird Niemand derartige Speculationen für wich-
tige Entdeckungen oder gar, wie es wohl die alten Philo-
sophen thaten, für das höchste Ziel der Wissenschaft halten.
Ob es aber gerechtfertigt ist, sie als etwas völlig müssiges zu

Boltzmann, Gastheorie II. 17
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[257/0275] [Gleich. 290] § 90. Anwendung auf das Universum. Frage im bejahenden Sinne beantworten wollte, müsste als Weltbild ein System benutzen, dessen zeitliche Veränderungen durch Gleichungen gegeben werden, in denen die positive und negative Zeitrichtung gleich berechtigt sind und mittelst dessen doch durch eine besondere specielle Annahme der Schein der Irreversibilität in langen Zeiträumen erklärbar ist. Dies trifft aber gerade bei der atomistischen Weltanschauung zu. Man kann sich die Welt als ein mechanisches System von einer enorm grossen Anzahl von Bestandtheilen und von enorm langer Dauer denken, so dass die Dimensionen unseres Fixsternhimmels winzig gegen die Ausdehnung des Universums und Zeiten, die wir Aeonen nennen, winzig gegen dessen Dauer sind. Es müssen dann im Universum, das sonst überall im Wärmegleichgewichte, also todt ist, hier und da solche ver- hältnissmässig kleine Bezirke von der Ausdehnung unseres Sternenraumes (nennen wir sie Einzelwelten) vorkommen, die während der verhältnissmässig kurzen Zeit von Aeonen erheb- lich vom Wärmegleichgewichte abweichen, und zwar ebenso häufig solche, in denen die Zustandswahrscheinlichkeit gerade zu- als abnimmt. Für das Universum sind also beide Rich- tungen der Zeit ununterscheidbar, wie es im Raume kein Oben oder Unten giebt. Aber wie wir an einer bestimmten Stelle der Erdoberfläche die Richtung gegen den Erdmittelpunkt als die Richtung nach unten bezeichnen, so wird ein Lebewesen, das sich in einer bestimmten Zeitphase einer solchen Einzelwelt befindet, die Zeitrichtung gegen die unwahrscheinlicheren Zustände anders als die entgegengesetzte (erstere als die Vergangenheit, den Anfang, letztere als die Zukunft, das Ende) bezeichnen und vermöge dieser Benennung werden sich für dasselbe kleine aus dem Universum isolirte Gebiete, „anfangs“ immer in einem unwahrscheinlichen Zustande befinden. Diese Methode scheint mir die einzige, wonach man den 2. Hauptsatz, den Wärmetod jeder Einzelwelt, ohne eine einseitige Aenderung des ganzen Universums von einem bestimmten Anfangs- gegen einen schliesslichen Endzustand denken kann. Gewiss wird Niemand derartige Speculationen für wich- tige Entdeckungen oder gar, wie es wohl die alten Philo- sophen thaten, für das höchste Ziel der Wissenschaft halten. Ob es aber gerechtfertigt ist, sie als etwas völlig müssiges zu Boltzmann, Gastheorie II. 17

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/275>, abgerufen am 25.04.2024.