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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

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§ 1. Van der Waals' Grundanschauungen.

Die nach dieser Methode von Gay-Lussac1) und später
von Joule und Lord Kelvin2) angestellten Versuche ergaben
zwar kein die Frage nach dem Vorhandensein dieser Anziehungs-
kräfte sicher entscheidendes Resultat, doch gelang es den beiden
Letzteren nach einer mehr indirecten Methode die Existenz
dieser Anziehungskräfte durch Ausdehnungsversuche mit Gasen
experimentell nachzuweisen.3) Sie zeigten nämlich, dass ein Gas,
welches (ohne Wärmeabgabe nach aussen) mit Druck durch einen
porösen Pfropf getrieben wird, dabei eine kleine Abkühlung er-
fährt, während die Rechnung ergiebt, dass ein vollkommen ideales
Gas hierbei seine Temperatur nicht ändern würde.

Die gleichzeitige Existenz einer anziehenden Fernkraft
und eines elastischen Kernes der Moleküle hat freilich eine
gewisse Unwahrscheinlichkeit. Besonders scheint sie der im
III. Abschnitte des I. Theiles besprochenen Annahme dia-
metral entgegengesetzt zu sein, dass sich zwei Moleküle mit
einer der 5. Potenz der Entfernung verkehrt proportionalen
Kraft abstossen. Trotzdem könnten beide Annahmen eine ge-
wisse Annäherung an die Wirklichkeit gewähren, wenn die
Moleküle in grösseren Entfernungen eine schwache Anziehung,
in sehr kleinen aber eine nahe der 5. Potenz der Entfernung
verkehrt proportionale Abstossung auf einander ausüben würden.
Die Anziehung müsste dann mit abnehmender Entfernung weit
langsamer wachsen als die Abstossung, so dass erstere bei den
Zusammenstössen neben der in sehr kleinen Entfernungen enorm
überwiegenden Abstossung nicht in Betracht käme.

Wir wollen selbstverständlich eine genauere Formulirung
der etwa möglichen Annahmen der Zukunft überlassen und uns
im Folgenden unbekümmert um den Zusammenhang mit den im
I. Theile discutirten Hypothesen genau an die Voraussetzungen
van der Waals' halten, die wir ganz im Sinne unserer Theorie
wieder als ein nur in manchen Stücken zutreffendes Bild be-
trachten. Wir haben ja auch bisher im Bewusstsein unserer Un-
bekanntschaft mit der wahren Beschaffenheit der Moleküle niemals

1) Mem. d. l. soc. d'Arcueil I, S. 180, 1807; vgl. Anhang zu Mach,
Princ. d. Wärmelehre, Barth, 1897.
2) Phil. mag. ser. III, 26, S. 369, 1845. Joule's gesamm. Abh.,
deutsch v. Sprengel.
3) Phil. trans. 1854, S. 321. 1862, S. 579.
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§ 1. Van der Waals’ Grundanschauungen.

Die nach dieser Methode von Gay-Lussac1) und später
von Joule und Lord Kelvin2) angestellten Versuche ergaben
zwar kein die Frage nach dem Vorhandensein dieser Anziehungs-
kräfte sicher entscheidendes Resultat, doch gelang es den beiden
Letzteren nach einer mehr indirecten Methode die Existenz
dieser Anziehungskräfte durch Ausdehnungsversuche mit Gasen
experimentell nachzuweisen.3) Sie zeigten nämlich, dass ein Gas,
welches (ohne Wärmeabgabe nach aussen) mit Druck durch einen
porösen Pfropf getrieben wird, dabei eine kleine Abkühlung er-
fährt, während die Rechnung ergiebt, dass ein vollkommen ideales
Gas hierbei seine Temperatur nicht ändern würde.

Die gleichzeitige Existenz einer anziehenden Fernkraft
und eines elastischen Kernes der Moleküle hat freilich eine
gewisse Unwahrscheinlichkeit. Besonders scheint sie der im
III. Abschnitte des I. Theiles besprochenen Annahme dia-
metral entgegengesetzt zu sein, dass sich zwei Moleküle mit
einer der 5. Potenz der Entfernung verkehrt proportionalen
Kraft abstossen. Trotzdem könnten beide Annahmen eine ge-
wisse Annäherung an die Wirklichkeit gewähren, wenn die
Moleküle in grösseren Entfernungen eine schwache Anziehung,
in sehr kleinen aber eine nahe der 5. Potenz der Entfernung
verkehrt proportionale Abstossung auf einander ausüben würden.
Die Anziehung müsste dann mit abnehmender Entfernung weit
langsamer wachsen als die Abstossung, so dass erstere bei den
Zusammenstössen neben der in sehr kleinen Entfernungen enorm
überwiegenden Abstossung nicht in Betracht käme.

Wir wollen selbstverständlich eine genauere Formulirung
der etwa möglichen Annahmen der Zukunft überlassen und uns
im Folgenden unbekümmert um den Zusammenhang mit den im
I. Theile discutirten Hypothesen genau an die Voraussetzungen
van der Waals’ halten, die wir ganz im Sinne unserer Theorie
wieder als ein nur in manchen Stücken zutreffendes Bild be-
trachten. Wir haben ja auch bisher im Bewusstsein unserer Un-
bekanntschaft mit der wahren Beschaffenheit der Moleküle niemals

1) Mem. d. l. soc. d’Arcueil I, S. 180, 1807; vgl. Anhang zu Mach,
Princ. d. Wärmelehre, Barth, 1897.
2) Phil. mag. ser. III, 26, S. 369, 1845. Joule’s gesamm. Abh.,
deutsch v. Sprengel.
3) Phil. trans. 1854, S. 321. 1862, S. 579.
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[3/0021] § 1. Van der Waals’ Grundanschauungen. Die nach dieser Methode von Gay-Lussac 1) und später von Joule und Lord Kelvin 2) angestellten Versuche ergaben zwar kein die Frage nach dem Vorhandensein dieser Anziehungs- kräfte sicher entscheidendes Resultat, doch gelang es den beiden Letzteren nach einer mehr indirecten Methode die Existenz dieser Anziehungskräfte durch Ausdehnungsversuche mit Gasen experimentell nachzuweisen. 3) Sie zeigten nämlich, dass ein Gas, welches (ohne Wärmeabgabe nach aussen) mit Druck durch einen porösen Pfropf getrieben wird, dabei eine kleine Abkühlung er- fährt, während die Rechnung ergiebt, dass ein vollkommen ideales Gas hierbei seine Temperatur nicht ändern würde. Die gleichzeitige Existenz einer anziehenden Fernkraft und eines elastischen Kernes der Moleküle hat freilich eine gewisse Unwahrscheinlichkeit. Besonders scheint sie der im III. Abschnitte des I. Theiles besprochenen Annahme dia- metral entgegengesetzt zu sein, dass sich zwei Moleküle mit einer der 5. Potenz der Entfernung verkehrt proportionalen Kraft abstossen. Trotzdem könnten beide Annahmen eine ge- wisse Annäherung an die Wirklichkeit gewähren, wenn die Moleküle in grösseren Entfernungen eine schwache Anziehung, in sehr kleinen aber eine nahe der 5. Potenz der Entfernung verkehrt proportionale Abstossung auf einander ausüben würden. Die Anziehung müsste dann mit abnehmender Entfernung weit langsamer wachsen als die Abstossung, so dass erstere bei den Zusammenstössen neben der in sehr kleinen Entfernungen enorm überwiegenden Abstossung nicht in Betracht käme. Wir wollen selbstverständlich eine genauere Formulirung der etwa möglichen Annahmen der Zukunft überlassen und uns im Folgenden unbekümmert um den Zusammenhang mit den im I. Theile discutirten Hypothesen genau an die Voraussetzungen van der Waals’ halten, die wir ganz im Sinne unserer Theorie wieder als ein nur in manchen Stücken zutreffendes Bild be- trachten. Wir haben ja auch bisher im Bewusstsein unserer Un- bekanntschaft mit der wahren Beschaffenheit der Moleküle niemals 1) Mem. d. l. soc. d’Arcueil I, S. 180, 1807; vgl. Anhang zu Mach, Princ. d. Wärmelehre, Barth, 1897. 2) Phil. mag. ser. III, 26, S. 369, 1845. Joule’s gesamm. Abh., deutsch v. Sprengel. 3) Phil. trans. 1854, S. 321. 1862, S. 579. 1*

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/21>, abgerufen am 29.03.2024.