Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 1. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
bewegung sei. Diese Vorstellung ist in der That für die all-
gemeine Wärmelehre nicht erforderlich und wurde bekanntlich
schon von Robert Mayer nicht getheilt. Sicher ist die weitere
Ausbildung der Energetik für die Wissenschaft hochbedeutend;
allein bisher sind die Begriffe derselben noch viel zu unklar
und ihre Lehrsätze noch viel zu wenig eindeutig ausgesprochen,
als dass sie die scharf definirten, auf neue specielle Fälle, wo
man das Resultat noch nicht voraus weiss, immer klar anwend-
baren Theoreme der alten Wärmelehre verdrängen könnten.

Nun hat auf dem Gebiete der Elektricitätslehre die alte,
besonders in Deutschland übliche mechanische Erklärung der
betreffenden Erscheinungen aus Fernkräften Schiffbruch ge-
litten; ja obwohl Maxwell selbst mit der grössten Hoch-
achtung von Wilhelm Weber's Theorie spricht, der durch
die Bestimmung der Umrechnungszahl der elektrostatischen
und elektromagnetischen Maasseinheit und durch die Ent-
deckung ihrer Beziehung zur Lichtgeschwindigkeit sogar den
ersten Stein zum Gebäude der elektromagnetischen Licht-
theorie geliefert hatte, so verstieg man sich bis zur Behaup-
tung, dass die mechanische Hypothese Wilhelm Weber's
über die Wirksamkeit der elektrischen Kräfte für den Fort-
schritt der Wissenschaft sogar schädlich gewesen sei.

In England blieben die Ansichten über die Natur der
Wärme, sowie über die Atomistik hiervon ziemlich unberührt.
Aber gerade am Continente, wo man früher die in der Astro-
nomie so nützliche Annahme von Centralkräften zwischen mate-
riellen Punkten zu einer erkenntnisstheoretischen Forderung
generalisirt und deshalb noch vor anderthalb Decennien die
Maxwell'sche Elektricitätstheorie kaum beachtet hatte (nur
diese Generalisation war schädlich), generalisirte man nun
wieder den provisorischen Charakter jeder speciellen Hypo-
these und schloss, dass auch die Annahme, die Wärme sei
eine Bewegung der kleinsten Theile, mit der Zeit als falsch
erkannt und bei Seite geschoben werden würde.

Dem gegenüber muss erinnert werden, dass die Ver-
quickung der kinetischen Theorie mit der Lehre von den
Centralkräften eine bloss zufällige ist. Die Gastheorie zeigt
insofern sogar besondere Verwandtschaft mit der Maxwell'-
schen Elektricitätstheorie, dass sie die sichtbare Bewegung

Einleitung.
bewegung sei. Diese Vorstellung ist in der That für die all-
gemeine Wärmelehre nicht erforderlich und wurde bekanntlich
schon von Robert Mayer nicht getheilt. Sicher ist die weitere
Ausbildung der Energetik für die Wissenschaft hochbedeutend;
allein bisher sind die Begriffe derselben noch viel zu unklar
und ihre Lehrsätze noch viel zu wenig eindeutig ausgesprochen,
als dass sie die scharf definirten, auf neue specielle Fälle, wo
man das Resultat noch nicht voraus weiss, immer klar anwend-
baren Theoreme der alten Wärmelehre verdrängen könnten.

Nun hat auf dem Gebiete der Elektricitätslehre die alte,
besonders in Deutschland übliche mechanische Erklärung der
betreffenden Erscheinungen aus Fernkräften Schiffbruch ge-
litten; ja obwohl Maxwell selbst mit der grössten Hoch-
achtung von Wilhelm Weber’s Theorie spricht, der durch
die Bestimmung der Umrechnungszahl der elektrostatischen
und elektromagnetischen Maasseinheit und durch die Ent-
deckung ihrer Beziehung zur Lichtgeschwindigkeit sogar den
ersten Stein zum Gebäude der elektromagnetischen Licht-
theorie geliefert hatte, so verstieg man sich bis zur Behaup-
tung, dass die mechanische Hypothese Wilhelm Weber’s
über die Wirksamkeit der elektrischen Kräfte für den Fort-
schritt der Wissenschaft sogar schädlich gewesen sei.

In England blieben die Ansichten über die Natur der
Wärme, sowie über die Atomistik hiervon ziemlich unberührt.
Aber gerade am Continente, wo man früher die in der Astro-
nomie so nützliche Annahme von Centralkräften zwischen mate-
riellen Punkten zu einer erkenntnisstheoretischen Forderung
generalisirt und deshalb noch vor anderthalb Decennien die
Maxwell’sche Elektricitätstheorie kaum beachtet hatte (nur
diese Generalisation war schädlich), generalisirte man nun
wieder den provisorischen Charakter jeder speciellen Hypo-
these und schloss, dass auch die Annahme, die Wärme sei
eine Bewegung der kleinsten Theile, mit der Zeit als falsch
erkannt und bei Seite geschoben werden würde.

Dem gegenüber muss erinnert werden, dass die Ver-
quickung der kinetischen Theorie mit der Lehre von den
Centralkräften eine bloss zufällige ist. Die Gastheorie zeigt
insofern sogar besondere Verwandtschaft mit der Maxwell’-
schen Elektricitätstheorie, dass sie die sichtbare Bewegung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0016" n="2"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
bewegung sei. Diese Vorstellung ist in der That für die all-<lb/>
gemeine Wärmelehre nicht erforderlich und wurde bekanntlich<lb/>
schon von <hi rendition="#g">Robert Mayer</hi> nicht getheilt. Sicher ist die weitere<lb/>
Ausbildung der Energetik für die Wissenschaft hochbedeutend;<lb/>
allein bisher sind die Begriffe derselben noch viel zu unklar<lb/>
und ihre Lehrsätze noch viel zu wenig eindeutig ausgesprochen,<lb/>
als dass sie die scharf definirten, auf neue specielle Fälle, wo<lb/>
man das Resultat noch nicht voraus weiss, immer klar anwend-<lb/>
baren Theoreme der alten Wärmelehre verdrängen könnten.</p><lb/>
          <p>Nun hat auf dem Gebiete der Elektricitätslehre die alte,<lb/>
besonders in Deutschland übliche mechanische Erklärung der<lb/>
betreffenden Erscheinungen aus Fernkräften Schiffbruch ge-<lb/>
litten; ja obwohl <hi rendition="#g">Maxwell</hi> selbst mit der grössten Hoch-<lb/>
achtung von <hi rendition="#g">Wilhelm Weber&#x2019;s</hi> Theorie spricht, der durch<lb/>
die Bestimmung der Umrechnungszahl der elektrostatischen<lb/>
und elektromagnetischen Maasseinheit und durch die Ent-<lb/>
deckung ihrer Beziehung zur Lichtgeschwindigkeit sogar den<lb/>
ersten Stein zum Gebäude der elektromagnetischen Licht-<lb/>
theorie geliefert hatte, so verstieg man sich bis zur Behaup-<lb/>
tung, dass die mechanische Hypothese <hi rendition="#g">Wilhelm Weber&#x2019;s</hi><lb/>
über die Wirksamkeit der elektrischen Kräfte für den Fort-<lb/>
schritt der Wissenschaft sogar schädlich gewesen sei.</p><lb/>
          <p>In England blieben die Ansichten über die Natur der<lb/>
Wärme, sowie über die Atomistik hiervon ziemlich unberührt.<lb/>
Aber gerade am Continente, wo man früher die in der Astro-<lb/>
nomie so nützliche Annahme von Centralkräften zwischen mate-<lb/>
riellen Punkten zu einer erkenntnisstheoretischen Forderung<lb/>
generalisirt und deshalb noch vor anderthalb Decennien die<lb/><hi rendition="#g">Maxwell&#x2019;s</hi>che Elektricitätstheorie kaum beachtet hatte (nur<lb/>
diese Generalisation war schädlich), generalisirte man nun<lb/>
wieder den provisorischen Charakter jeder speciellen Hypo-<lb/>
these und schloss, dass auch die Annahme, die Wärme sei<lb/>
eine Bewegung der kleinsten Theile, mit der Zeit als falsch<lb/>
erkannt und bei Seite geschoben werden würde.</p><lb/>
          <p>Dem gegenüber muss erinnert werden, dass die Ver-<lb/>
quickung der kinetischen Theorie mit der Lehre von den<lb/>
Centralkräften eine bloss zufällige ist. Die Gastheorie zeigt<lb/>
insofern sogar besondere Verwandtschaft mit der <hi rendition="#g">Maxwell</hi>&#x2019;-<lb/>
schen Elektricitätstheorie, dass sie die sichtbare Bewegung<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0016] Einleitung. bewegung sei. Diese Vorstellung ist in der That für die all- gemeine Wärmelehre nicht erforderlich und wurde bekanntlich schon von Robert Mayer nicht getheilt. Sicher ist die weitere Ausbildung der Energetik für die Wissenschaft hochbedeutend; allein bisher sind die Begriffe derselben noch viel zu unklar und ihre Lehrsätze noch viel zu wenig eindeutig ausgesprochen, als dass sie die scharf definirten, auf neue specielle Fälle, wo man das Resultat noch nicht voraus weiss, immer klar anwend- baren Theoreme der alten Wärmelehre verdrängen könnten. Nun hat auf dem Gebiete der Elektricitätslehre die alte, besonders in Deutschland übliche mechanische Erklärung der betreffenden Erscheinungen aus Fernkräften Schiffbruch ge- litten; ja obwohl Maxwell selbst mit der grössten Hoch- achtung von Wilhelm Weber’s Theorie spricht, der durch die Bestimmung der Umrechnungszahl der elektrostatischen und elektromagnetischen Maasseinheit und durch die Ent- deckung ihrer Beziehung zur Lichtgeschwindigkeit sogar den ersten Stein zum Gebäude der elektromagnetischen Licht- theorie geliefert hatte, so verstieg man sich bis zur Behaup- tung, dass die mechanische Hypothese Wilhelm Weber’s über die Wirksamkeit der elektrischen Kräfte für den Fort- schritt der Wissenschaft sogar schädlich gewesen sei. In England blieben die Ansichten über die Natur der Wärme, sowie über die Atomistik hiervon ziemlich unberührt. Aber gerade am Continente, wo man früher die in der Astro- nomie so nützliche Annahme von Centralkräften zwischen mate- riellen Punkten zu einer erkenntnisstheoretischen Forderung generalisirt und deshalb noch vor anderthalb Decennien die Maxwell’sche Elektricitätstheorie kaum beachtet hatte (nur diese Generalisation war schädlich), generalisirte man nun wieder den provisorischen Charakter jeder speciellen Hypo- these und schloss, dass auch die Annahme, die Wärme sei eine Bewegung der kleinsten Theile, mit der Zeit als falsch erkannt und bei Seite geschoben werden würde. Dem gegenüber muss erinnert werden, dass die Ver- quickung der kinetischen Theorie mit der Lehre von den Centralkräften eine bloss zufällige ist. Die Gastheorie zeigt insofern sogar besondere Verwandtschaft mit der Maxwell’- schen Elektricitätstheorie, dass sie die sichtbare Bewegung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie01_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie01_1896/16
Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 1. Leipzig, 1896, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie01_1896/16>, abgerufen am 20.04.2024.