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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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konnte. Aber das Geistige riß fort. Und der geistige Begriff,
der das "Volk" geschaffen, war dann auch die Brücke über das
Volk hinaus zur Gemeinschaft aller Kulturmenschen, zuletzt
aller Menschen überhaupt.

Dein Blick, der in den gärenden Trichter dieser Ent¬
wickelungen starrt, fühlt es jäh wie einen Blitz, der ihn auf¬
wärts reißt.

Du vermeintest am Rande zu stehen und bloß niederwärts
zu schauen. Da faßt es dich, daß du selber mitten darin bist.
Wie es unendlich aus der schemenhaften Tiefe unter dir herauf¬
wirbelt, so wälzt es sich über dir in lichten Gestalten in das
bloß Geahnte der Zukunft hinan, in immer fernere Dunst¬
schleier hinein.

Als die Menschenliebe auf jenem Palmenhügel über dem
glitzernden See Wort wurde, da umschloß dieses Wort nicht
bloß wie ein goldener Reif unermeßliche dunkle Arbeit der
Vergangenheit: es münzte auch schon aus, was erst die Arbeit
folgender Jahrtausende zur Wahrheit gestalten sollte. In dem
Wort von der "Menschenliebe" lag im tiefsten Sinn schon alles,
was wir heute als kühnstes soziales Zukunftsideal vor der
Seele tragen ....

Das soziale Ideal. Wie das dampft, blutet, wogt in
unsere fast grauenhaft helle Tageswirklichkeit hinein. Und doch
auch das zuletzt nur eine Frage der Liebe. Eine Frage aus
jener Kette der Empfindungen, die das Wort in so viel Wandel
doch mit immer gleicher stahlharter Fügung ineinander hält.
Eine Frage, angelegt in jenen Eintagsfliegen, die der Brunst¬
drang aus der räuberischen Einsiedlerschaft des Larven-Indi¬
viduums zu zwei Stunden Seligkeit der Geschlechtsgemeinschaft
ohne Daseinssorgen erweckt. Angelegt in jenen Fischen, die die
Geschlechtsliebe aus dem Ozean siebt, bis die silberne Masse
inselartig aus den Wassern steigt, eine Gemeinschaft zeugender
Geschlechtswesen, denen der enge, seichte Fjord ein einziges
großes Brautbett ist. Emporentwickelt, vergeistigt in der

konnte. Aber das Geiſtige riß fort. Und der geiſtige Begriff,
der das „Volk“ geſchaffen, war dann auch die Brücke über das
Volk hinaus zur Gemeinſchaft aller Kulturmenſchen, zuletzt
aller Menſchen überhaupt.

Dein Blick, der in den gärenden Trichter dieſer Ent¬
wickelungen ſtarrt, fühlt es jäh wie einen Blitz, der ihn auf¬
wärts reißt.

Du vermeinteſt am Rande zu ſtehen und bloß niederwärts
zu ſchauen. Da faßt es dich, daß du ſelber mitten darin biſt.
Wie es unendlich aus der ſchemenhaften Tiefe unter dir herauf¬
wirbelt, ſo wälzt es ſich über dir in lichten Geſtalten in das
bloß Geahnte der Zukunft hinan, in immer fernere Dunſt¬
ſchleier hinein.

Als die Menſchenliebe auf jenem Palmenhügel über dem
glitzernden See Wort wurde, da umſchloß dieſes Wort nicht
bloß wie ein goldener Reif unermeßliche dunkle Arbeit der
Vergangenheit: es münzte auch ſchon aus, was erſt die Arbeit
folgender Jahrtauſende zur Wahrheit geſtalten ſollte. In dem
Wort von der „Menſchenliebe“ lag im tiefſten Sinn ſchon alles,
was wir heute als kühnſtes ſoziales Zukunftsideal vor der
Seele tragen ....

Das ſoziale Ideal. Wie das dampft, blutet, wogt in
unſere faſt grauenhaft helle Tageswirklichkeit hinein. Und doch
auch das zuletzt nur eine Frage der Liebe. Eine Frage aus
jener Kette der Empfindungen, die das Wort in ſo viel Wandel
doch mit immer gleicher ſtahlharter Fügung ineinander hält.
Eine Frage, angelegt in jenen Eintagsfliegen, die der Brunſt¬
drang aus der räuberiſchen Einſiedlerſchaft des Larven-Indi¬
viduums zu zwei Stunden Seligkeit der Geſchlechtsgemeinſchaft
ohne Daſeinsſorgen erweckt. Angelegt in jenen Fiſchen, die die
Geſchlechtsliebe aus dem Ozean ſiebt, bis die ſilberne Maſſe
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[34/0050] konnte. Aber das Geiſtige riß fort. Und der geiſtige Begriff, der das „Volk“ geſchaffen, war dann auch die Brücke über das Volk hinaus zur Gemeinſchaft aller Kulturmenſchen, zuletzt aller Menſchen überhaupt. Dein Blick, der in den gärenden Trichter dieſer Ent¬ wickelungen ſtarrt, fühlt es jäh wie einen Blitz, der ihn auf¬ wärts reißt. Du vermeinteſt am Rande zu ſtehen und bloß niederwärts zu ſchauen. Da faßt es dich, daß du ſelber mitten darin biſt. Wie es unendlich aus der ſchemenhaften Tiefe unter dir herauf¬ wirbelt, ſo wälzt es ſich über dir in lichten Geſtalten in das bloß Geahnte der Zukunft hinan, in immer fernere Dunſt¬ ſchleier hinein. Als die Menſchenliebe auf jenem Palmenhügel über dem glitzernden See Wort wurde, da umſchloß dieſes Wort nicht bloß wie ein goldener Reif unermeßliche dunkle Arbeit der Vergangenheit: es münzte auch ſchon aus, was erſt die Arbeit folgender Jahrtauſende zur Wahrheit geſtalten ſollte. In dem Wort von der „Menſchenliebe“ lag im tiefſten Sinn ſchon alles, was wir heute als kühnſtes ſoziales Zukunftsideal vor der Seele tragen .... Das ſoziale Ideal. Wie das dampft, blutet, wogt in unſere faſt grauenhaft helle Tageswirklichkeit hinein. Und doch auch das zuletzt nur eine Frage der Liebe. Eine Frage aus jener Kette der Empfindungen, die das Wort in ſo viel Wandel doch mit immer gleicher ſtahlharter Fügung ineinander hält. Eine Frage, angelegt in jenen Eintagsfliegen, die der Brunſt¬ drang aus der räuberiſchen Einſiedlerſchaft des Larven-Indi¬ viduums zu zwei Stunden Seligkeit der Geſchlechtsgemeinſchaft ohne Daſeinsſorgen erweckt. Angelegt in jenen Fiſchen, die die Geſchlechtsliebe aus dem Ozean ſiebt, bis die ſilberne Maſſe inſelartig aus den Waſſern ſteigt, eine Gemeinſchaft zeugender Geſchlechtsweſen, denen der enge, ſeichte Fjord ein einziges großes Brautbett iſt. Emporentwickelt, vergeiſtigt in der

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/50>, abgerufen am 29.03.2024.