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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 9. Zürich, 1749.

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Von dem Zustande drr Poesie
sie auch durch sie hätte reden mögen. Und
wären nicht etliche wenige Bücher vor vielen
hundert Jahren in teutschen Reimen geschrie-
ben, mir zu Handen kommen, dörffte ich
zweiffeln, ob jemahls dergleichen bey uns üb-
lich gewesen. Dann was insgemein von jezi-
gen Versen herum getragen wird, weiß ich
wahrlich nicht, ob es mehr unserer Sprache
zu Ehren, als Schanden angezogen werden
könne. Wiewohl ich keines Wegs in Abre-
de bin, daß viele stattliche Jngenia seyn mö-
gen, die unserer Mutter-Sprache auch dieß-
falls wohl mächtig, und sie nach Würden zu
tractiren wüßten. Warum aber solches biß
anhero zuruck gestellet, kan ich eigentlich bey
mir nicht ermessen. Dann daß ich es der Poe-
sie selber, als einer unnöthigen und vergebli-
chen Wissenschafft zuschreiben solte, glaube ich
nimmermehr, daß einiger verständiger diesem
unbesonnenen Urtheil Beyfall geben könne.
Diese fürtreffliche Art zu schreiben ist vor Al-
ters so hoch geschätzt worden, daß auch der
Weltweiseste Mensch, Socrates, an seinem
Ende sie für die Hand zu nehmen sich unter-
standen, und vermeynt, er könne die Un-
sterblichkeit der Seelen eher nicht empfinden,
dann wann er durch die Poeterey, als nächste
Stafel zu derselben, dahin gelangte. Und
daß ich nicht berühre, was Plato dießfalls

wei-

Von dem Zuſtande drr Poeſie
ſie auch durch ſie haͤtte reden moͤgen. Und
waͤren nicht etliche wenige Buͤcher vor vielen
hundert Jahren in teutſchen Reimen geſchrie-
ben, mir zu Handen kommen, doͤrffte ich
zweiffeln, ob jemahls dergleichen bey uns uͤb-
lich geweſen. Dann was insgemein von jezi-
gen Verſen herum getragen wird, weiß ich
wahrlich nicht, ob es mehr unſerer Sprache
zu Ehren, als Schanden angezogen werden
koͤnne. Wiewohl ich keines Wegs in Abre-
de bin, daß viele ſtattliche Jngenia ſeyn moͤ-
gen, die unſerer Mutter-Sprache auch dieß-
falls wohl maͤchtig, und ſie nach Wuͤrden zu
tractiren wuͤßten. Warum aber ſolches biß
anhero zuruck geſtellet, kan ich eigentlich bey
mir nicht ermeſſen. Dann daß ich es der Poe-
ſie ſelber, als einer unnoͤthigen und vergebli-
chen Wiſſenſchafft zuſchreiben ſolte, glaube ich
nimmermehr, daß einiger verſtaͤndiger dieſem
unbeſonnenen Urtheil Beyfall geben koͤnne.
Dieſe fuͤrtreffliche Art zu ſchreiben iſt vor Al-
ters ſo hoch geſchaͤtzt worden, daß auch der
Weltweiſeſte Menſch, Socrates, an ſeinem
Ende ſie fuͤr die Hand zu nehmen ſich unter-
ſtanden, und vermeynt, er koͤnne die Un-
ſterblichkeit der Seelen eher nicht empfinden,
dann wann er durch die Poeterey, als naͤchſte
Stafel zu derſelben, dahin gelangte. Und
daß ich nicht beruͤhre, was Plato dießfalls

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[24/0024] Von dem Zuſtande drr Poeſie ſie auch durch ſie haͤtte reden moͤgen. Und waͤren nicht etliche wenige Buͤcher vor vielen hundert Jahren in teutſchen Reimen geſchrie- ben, mir zu Handen kommen, doͤrffte ich zweiffeln, ob jemahls dergleichen bey uns uͤb- lich geweſen. Dann was insgemein von jezi- gen Verſen herum getragen wird, weiß ich wahrlich nicht, ob es mehr unſerer Sprache zu Ehren, als Schanden angezogen werden koͤnne. Wiewohl ich keines Wegs in Abre- de bin, daß viele ſtattliche Jngenia ſeyn moͤ- gen, die unſerer Mutter-Sprache auch dieß- falls wohl maͤchtig, und ſie nach Wuͤrden zu tractiren wuͤßten. Warum aber ſolches biß anhero zuruck geſtellet, kan ich eigentlich bey mir nicht ermeſſen. Dann daß ich es der Poe- ſie ſelber, als einer unnoͤthigen und vergebli- chen Wiſſenſchafft zuſchreiben ſolte, glaube ich nimmermehr, daß einiger verſtaͤndiger dieſem unbeſonnenen Urtheil Beyfall geben koͤnne. Dieſe fuͤrtreffliche Art zu ſchreiben iſt vor Al- ters ſo hoch geſchaͤtzt worden, daß auch der Weltweiſeſte Menſch, Socrates, an ſeinem Ende ſie fuͤr die Hand zu nehmen ſich unter- ſtanden, und vermeynt, er koͤnne die Un- ſterblichkeit der Seelen eher nicht empfinden, dann wann er durch die Poeterey, als naͤchſte Stafel zu derſelben, dahin gelangte. Und daß ich nicht beruͤhre, was Plato dießfalls wei-

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 9. Zürich, 1749, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung09_1743/24>, abgerufen am 19.04.2024.