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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

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Von den poetischen Zeiten
setze schreken ihn nicht, weil sie denn keine Macht
haben. Die abgezogenen Wissenschaften sind
ein Werck der Ruhe und Stille, aber die,
welche sich auf die Menschen beziehen, und
nach dem menschlichen Hertzen zielen, werden
am besten in Bewegungen und Verrichtungen
kennen gelernet.

Diese Betrachtungen und andre, auf wel-
che mich der eben erwehnte geschikte Mann
geführet hat, haben mich die beste Hoffnung
von den Scribenten, welche unter den Kai-
sern aus dem schwäbischen Stamme gelebet
haben, fassen heissen. Damahls that die deut-
sche Freyheit ihr äusserstes, sich des sclavischen
Jochs zu entschütten, das ihr von Rom an-
gedrohet war. Die Deutschen waren nicht
mehr diese rohen und halbwilden, die aller
Gemächlichkeiten des Lebens, und politischen
Veranstaltungen beraubet waren. Sie hat-
ten friedliche Zeiten, zwischen langen und
zweyträchtigen Versuchen, gehabt, wo sie es
in den Künsten und Wissenschaften auf einen
gewissen Grad gebracht hatten. Doch waren
sie von Zucht, Höflichkeit und Cerimoniel nicht
zu enge eingethan. Sie hatten noch vieles
von ihrem unbändigen und ungezähmten Geist
behalten, und die Schranken der Religion oder
der Policey hatten die natürlichen und einfäl-
tigen Bewegungen ihres Hertzens nicht einge-
zwänget. Sie liessen ihren angebohrnen Nei-
gungen insgemein den vollen Zügel und verstell-
ten sich nicht sonderlich, daß sie anders schie-

nen

Von den poetiſchen Zeiten
ſetze ſchreken ihn nicht, weil ſie denn keine Macht
haben. Die abgezogenen Wiſſenſchaften ſind
ein Werck der Ruhe und Stille, aber die,
welche ſich auf die Menſchen beziehen, und
nach dem menſchlichen Hertzen zielen, werden
am beſten in Bewegungen und Verrichtungen
kennen gelernet.

Dieſe Betrachtungen und andre, auf wel-
che mich der eben erwehnte geſchikte Mann
gefuͤhret hat, haben mich die beſte Hoffnung
von den Scribenten, welche unter den Kai-
ſern aus dem ſchwaͤbiſchen Stamme gelebet
haben, faſſen heiſſen. Damahls that die deut-
ſche Freyheit ihr aͤuſſerſtes, ſich des ſclaviſchen
Jochs zu entſchuͤtten, das ihr von Rom an-
gedrohet war. Die Deutſchen waren nicht
mehr dieſe rohen und halbwilden, die aller
Gemaͤchlichkeiten des Lebens, und politiſchen
Veranſtaltungen beraubet waren. Sie hat-
ten friedliche Zeiten, zwiſchen langen und
zweytraͤchtigen Verſuchen, gehabt, wo ſie es
in den Kuͤnſten und Wiſſenſchaften auf einen
gewiſſen Grad gebracht hatten. Doch waren
ſie von Zucht, Hoͤflichkeit und Cerimoniel nicht
zu enge eingethan. Sie hatten noch vieles
von ihrem unbaͤndigen und ungezaͤhmten Geiſt
behalten, und die Schranken der Religion oder
der Policey hatten die natuͤrlichen und einfaͤl-
tigen Bewegungen ihres Hertzens nicht einge-
zwaͤnget. Sie lieſſen ihren angebohrnen Nei-
gungen insgemein den vollen Zuͤgel und verſtell-
ten ſich nicht ſonderlich, daß ſie anders ſchie-

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[26/0026] Von den poetiſchen Zeiten ſetze ſchreken ihn nicht, weil ſie denn keine Macht haben. Die abgezogenen Wiſſenſchaften ſind ein Werck der Ruhe und Stille, aber die, welche ſich auf die Menſchen beziehen, und nach dem menſchlichen Hertzen zielen, werden am beſten in Bewegungen und Verrichtungen kennen gelernet. Dieſe Betrachtungen und andre, auf wel- che mich der eben erwehnte geſchikte Mann gefuͤhret hat, haben mich die beſte Hoffnung von den Scribenten, welche unter den Kai- ſern aus dem ſchwaͤbiſchen Stamme gelebet haben, faſſen heiſſen. Damahls that die deut- ſche Freyheit ihr aͤuſſerſtes, ſich des ſclaviſchen Jochs zu entſchuͤtten, das ihr von Rom an- gedrohet war. Die Deutſchen waren nicht mehr dieſe rohen und halbwilden, die aller Gemaͤchlichkeiten des Lebens, und politiſchen Veranſtaltungen beraubet waren. Sie hat- ten friedliche Zeiten, zwiſchen langen und zweytraͤchtigen Verſuchen, gehabt, wo ſie es in den Kuͤnſten und Wiſſenſchaften auf einen gewiſſen Grad gebracht hatten. Doch waren ſie von Zucht, Hoͤflichkeit und Cerimoniel nicht zu enge eingethan. Sie hatten noch vieles von ihrem unbaͤndigen und ungezaͤhmten Geiſt behalten, und die Schranken der Religion oder der Policey hatten die natuͤrlichen und einfaͤl- tigen Bewegungen ihres Hertzens nicht einge- zwaͤnget. Sie lieſſen ihren angebohrnen Nei- gungen insgemein den vollen Zuͤgel und verſtell- ten ſich nicht ſonderlich, daß ſie anders ſchie- nen

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/26>, abgerufen am 28.03.2024.