Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite

für die epische Poesie.
Decken, und Zusätze zu der Grösse, die uns die
Natur mitgetheilt. Sie sind in der That glük-
lich gnug zu der besten Absicht, nemlich der Ruhe
und Ordnung in der Gesellschaft, aber in der Poe-
sie können sie kein Ergetzen geben.

Der Himmel hat einem und demselben Lande
nicht gegeben, daß es reiche Weinstöcke und krie-
gerische Männer hervorbringe. Es scheint auch
einem und demselben Königreiche nicht gegeben,
daß es gantz und gar wohlgesittet sey, und an-
ständigen Stof für die Poesie an die Hand gebe.

Das Wunderbare ist der Nerve der Epischen
Sayte: Aber was vor wundervolle Dinge
begegnen in einem wohleingerichteten Staate?
Schwerlich kan uns da etwas in Verwunderung
setzen; wir wissen die Springfedern der Dinge,
und die Art wie sie geschehen. Alle Dinge fol-
gen in der Ordnung, und der Gewohnheit oder
den Satzungen gemäß. Aber in einem weiten un-
gebauten Lande, wo kein eingerichtetes Regiment
ist, oder wo das Regiment vielfältig zertheilt ist,
wo die Einwohner zerstreut leben, und von Ge-
setzen und Mannszucht nichts wissen, in einem sol-
chen Lande sind die Sitten einfältig, und alle Ta-
ge werden neue Begegnissen vorfallen; Kinder
werden weggetragen oder verlohren werden; Ueber-
fälle; Fluchten; Befreyungen; und was sonst vor
Dinge die Leidenschaften des Menschen in der Zeit,
daß sie vorgehen, in Feuer setzen, oder durch die
Beschreibung und Nachahmung sie wieder auf-
wecken können.

Diese Dinge sind unter einer guten Regierung
nicht zu finden; ausgenommen in der Zeit eines

ein-

fuͤr die epiſche Poeſie.
Decken, und Zuſaͤtze zu der Groͤſſe, die uns die
Natur mitgetheilt. Sie ſind in der That gluͤk-
lich gnug zu der beſten Abſicht, nemlich der Ruhe
und Ordnung in der Geſellſchaft, aber in der Poe-
ſie koͤnnen ſie kein Ergetzen geben.

Der Himmel hat einem und demſelben Lande
nicht gegeben, daß es reiche Weinſtoͤcke und krie-
geriſche Maͤnner hervorbringe. Es ſcheint auch
einem und demſelben Koͤnigreiche nicht gegeben,
daß es gantz und gar wohlgeſittet ſey, und an-
ſtaͤndigen Stof fuͤr die Poeſie an die Hand gebe.

Das Wunderbare iſt der Nerve der Epiſchen
Sayte: Aber was vor wundervolle Dinge
begegnen in einem wohleingerichteten Staate?
Schwerlich kan uns da etwas in Verwunderung
ſetzen; wir wiſſen die Springfedern der Dinge,
und die Art wie ſie geſchehen. Alle Dinge fol-
gen in der Ordnung, und der Gewohnheit oder
den Satzungen gemaͤß. Aber in einem weiten un-
gebauten Lande, wo kein eingerichtetes Regiment
iſt, oder wo das Regiment vielfaͤltig zertheilt iſt,
wo die Einwohner zerſtreut leben, und von Ge-
ſetzen und Mannszucht nichts wiſſen, in einem ſol-
chen Lande ſind die Sitten einfaͤltig, und alle Ta-
ge werden neue Begegniſſen vorfallen; Kinder
werden weggetragen oder verlohren werden; Ueber-
faͤlle; Fluchten; Befreyungen; und was ſonſt vor
Dinge die Leidenſchaften des Menſchen in der Zeit,
daß ſie vorgehen, in Feuer ſetzen, oder durch die
Beſchreibung und Nachahmung ſie wieder auf-
wecken koͤnnen.

Dieſe Dinge ſind unter einer guten Regierung
nicht zu finden; ausgenommen in der Zeit eines

ein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0011" n="11"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">fu&#x0364;r die epi&#x017F;che Poe&#x017F;ie.</hi></fw><lb/>
Decken, und Zu&#x017F;a&#x0364;tze zu der Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, die uns die<lb/>
Natur mitgetheilt. Sie &#x017F;ind in der That glu&#x0364;k-<lb/>
lich gnug zu der be&#x017F;ten Ab&#x017F;icht, nemlich der Ruhe<lb/>
und Ordnung in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, aber in der Poe-<lb/>
&#x017F;ie ko&#x0364;nnen &#x017F;ie kein Ergetzen geben.</p><lb/>
        <p>Der Himmel hat einem und dem&#x017F;elben Lande<lb/>
nicht gegeben, daß es reiche Wein&#x017F;to&#x0364;cke und krie-<lb/>
geri&#x017F;che Ma&#x0364;nner hervorbringe. Es &#x017F;cheint auch<lb/>
einem und dem&#x017F;elben Ko&#x0364;nigreiche nicht gegeben,<lb/>
daß es gantz und gar wohlge&#x017F;ittet &#x017F;ey, und an-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndigen Stof fu&#x0364;r die Poe&#x017F;ie an die Hand gebe.</p><lb/>
        <p>Das Wunderbare i&#x017F;t der Nerve der Epi&#x017F;chen<lb/>
Sayte: Aber was vor wundervolle Dinge<lb/>
begegnen in einem wohleingerichteten Staate?<lb/>
Schwerlich kan uns da etwas in Verwunderung<lb/>
&#x017F;etzen; wir wi&#x017F;&#x017F;en die Springfedern der Dinge,<lb/>
und die Art wie &#x017F;ie ge&#x017F;chehen. Alle Dinge fol-<lb/>
gen in der Ordnung, und der Gewohnheit oder<lb/>
den Satzungen gema&#x0364;ß. Aber in einem weiten un-<lb/>
gebauten Lande, wo kein eingerichtetes Regiment<lb/>
i&#x017F;t, oder wo das Regiment vielfa&#x0364;ltig zertheilt i&#x017F;t,<lb/>
wo die Einwohner zer&#x017F;treut leben, und von Ge-<lb/>
&#x017F;etzen und Mannszucht nichts wi&#x017F;&#x017F;en, in einem &#x017F;ol-<lb/>
chen Lande &#x017F;ind die Sitten einfa&#x0364;ltig, und alle Ta-<lb/>
ge werden neue Begegni&#x017F;&#x017F;en vorfallen; Kinder<lb/>
werden weggetragen oder verlohren werden; Ueber-<lb/>
fa&#x0364;lle; Fluchten; Befreyungen; und was &#x017F;on&#x017F;t vor<lb/>
Dinge die Leiden&#x017F;chaften des Men&#x017F;chen in der Zeit,<lb/>
daß &#x017F;ie vorgehen, in Feuer &#x017F;etzen, oder durch die<lb/>
Be&#x017F;chreibung und Nachahmung &#x017F;ie wieder auf-<lb/>
wecken ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e Dinge &#x017F;ind unter einer guten Regierung<lb/>
nicht zu finden; ausgenommen in der Zeit eines<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ein-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0011] fuͤr die epiſche Poeſie. Decken, und Zuſaͤtze zu der Groͤſſe, die uns die Natur mitgetheilt. Sie ſind in der That gluͤk- lich gnug zu der beſten Abſicht, nemlich der Ruhe und Ordnung in der Geſellſchaft, aber in der Poe- ſie koͤnnen ſie kein Ergetzen geben. Der Himmel hat einem und demſelben Lande nicht gegeben, daß es reiche Weinſtoͤcke und krie- geriſche Maͤnner hervorbringe. Es ſcheint auch einem und demſelben Koͤnigreiche nicht gegeben, daß es gantz und gar wohlgeſittet ſey, und an- ſtaͤndigen Stof fuͤr die Poeſie an die Hand gebe. Das Wunderbare iſt der Nerve der Epiſchen Sayte: Aber was vor wundervolle Dinge begegnen in einem wohleingerichteten Staate? Schwerlich kan uns da etwas in Verwunderung ſetzen; wir wiſſen die Springfedern der Dinge, und die Art wie ſie geſchehen. Alle Dinge fol- gen in der Ordnung, und der Gewohnheit oder den Satzungen gemaͤß. Aber in einem weiten un- gebauten Lande, wo kein eingerichtetes Regiment iſt, oder wo das Regiment vielfaͤltig zertheilt iſt, wo die Einwohner zerſtreut leben, und von Ge- ſetzen und Mannszucht nichts wiſſen, in einem ſol- chen Lande ſind die Sitten einfaͤltig, und alle Ta- ge werden neue Begegniſſen vorfallen; Kinder werden weggetragen oder verlohren werden; Ueber- faͤlle; Fluchten; Befreyungen; und was ſonſt vor Dinge die Leidenſchaften des Menſchen in der Zeit, daß ſie vorgehen, in Feuer ſetzen, oder durch die Beſchreibung und Nachahmung ſie wieder auf- wecken koͤnnen. Dieſe Dinge ſind unter einer guten Regierung nicht zu finden; ausgenommen in der Zeit eines ein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/11
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/11>, abgerufen am 20.04.2024.