Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742.

Bild:
<< vorherige Seite
Mauvillons Brief


Des Herrn von Mauvillon Brief
von den deutschen Poeten.

EUre Nachbarn haben sich bisdahin einge-
bildet, eure Sprache wäre Schuld dar-
an, daß ihr keine guten Poeten hättet.
Jn diesen Gedancken steht der Urheber der Jü-
dischen
Briefe, der, wiewohl er sonst viel gu-
tes hat, sich in diesem, wie in viel andern Din-
gen, betrogen hat. Giebt es denn eine Spra-
che in der Welt, die einen treflichen Poeten aus
einem Menschen machen könne, der von Natur
kein Geschicke dazu hat? Man müßte thörigt
seyn, wenn man dieses nur gedencken wollte.
Und wie kan man begreiffen, daß eine Sprache
sey, die erhabenen Geistern im Wege stehe,
und sie hindere, daß sie sich nicht emporschwin-
gen können? Demnach müssen es eure Poe-
ten nicht der deutschen Sprache zur Last legen,
daß sie in einem so schlechten Ansehen stehen. Es
fehlt ihr weder an Nachdruck noch an Ausdrü-
kungen. Sie klingt zwar nicht lieblich in den
Ohren; aber was thut das dem schönen Gedan-
ken, und der geschickten Ausbildung derselben?
Besteht etwann die Schönheit der Poesie über-
haupt nur in der Lieblichkeit der Sprache; und
nicht vielmehr in gründlichen Gedancken, in arti-
gen und geschickten Ausbildungen? Wer darf
nun behaupten, daß die deutsche Sprache sich
zu diesen Sachen nicht schicke? Hat sie denn

eine
Mauvillons Brief


Des Herrn von Mauvillon Brief
von den deutſchen Poeten.

EUre Nachbarn haben ſich bisdahin einge-
bildet, eure Sprache waͤre Schuld dar-
an, daß ihr keine guten Poeten haͤttet.
Jn dieſen Gedancken ſteht der Urheber der Juͤ-
diſchen
Briefe, der, wiewohl er ſonſt viel gu-
tes hat, ſich in dieſem, wie in viel andern Din-
gen, betrogen hat. Giebt es denn eine Spra-
che in der Welt, die einen treflichen Poeten aus
einem Menſchen machen koͤnne, der von Natur
kein Geſchicke dazu hat? Man muͤßte thoͤrigt
ſeyn, wenn man dieſes nur gedencken wollte.
Und wie kan man begreiffen, daß eine Sprache
ſey, die erhabenen Geiſtern im Wege ſtehe,
und ſie hindere, daß ſie ſich nicht emporſchwin-
gen koͤnnen? Demnach muͤſſen es eure Poe-
ten nicht der deutſchen Sprache zur Laſt legen,
daß ſie in einem ſo ſchlechten Anſehen ſtehen. Es
fehlt ihr weder an Nachdruck noch an Ausdruͤ-
kungen. Sie klingt zwar nicht lieblich in den
Ohren; aber was thut das dem ſchoͤnen Gedan-
ken, und der geſchickten Ausbildung derſelben?
Beſteht etwann die Schoͤnheit der Poeſie uͤber-
haupt nur in der Lieblichkeit der Sprache; und
nicht vielmehr in gruͤndlichen Gedancken, in arti-
gen und geſchickten Ausbildungen? Wer darf
nun behaupten, daß die deutſche Sprache ſich
zu dieſen Sachen nicht ſchicke? Hat ſie denn

eine
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0030" n="30"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Mauvillons Brief</hi> </fw><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Des Herrn von Mauvillon Brief<lb/>
von den deut&#x017F;chen Poeten.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">E</hi>Ure Nachbarn haben &#x017F;ich bisdahin einge-<lb/>
bildet, eure Sprache wa&#x0364;re Schuld dar-<lb/>
an, daß ihr keine guten Poeten ha&#x0364;ttet.<lb/>
Jn die&#x017F;en Gedancken &#x017F;teht der Urheber der <hi rendition="#fr">Ju&#x0364;-<lb/>
di&#x017F;chen</hi> Briefe, der, wiewohl er &#x017F;on&#x017F;t viel gu-<lb/>
tes hat, &#x017F;ich in die&#x017F;em, wie in viel andern Din-<lb/>
gen, betrogen hat. Giebt es denn eine Spra-<lb/>
che in der Welt, die einen treflichen Poeten aus<lb/>
einem Men&#x017F;chen machen ko&#x0364;nne, der von Natur<lb/>
kein Ge&#x017F;chicke dazu hat? Man mu&#x0364;ßte tho&#x0364;rigt<lb/>
&#x017F;eyn, wenn man die&#x017F;es nur gedencken wollte.<lb/>
Und wie kan man begreiffen, daß eine Sprache<lb/>
&#x017F;ey, die erhabenen Gei&#x017F;tern im Wege &#x017F;tehe,<lb/>
und &#x017F;ie hindere, daß &#x017F;ie &#x017F;ich nicht empor&#x017F;chwin-<lb/>
gen ko&#x0364;nnen? Demnach mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en es eure Poe-<lb/>
ten nicht der deut&#x017F;chen Sprache zur La&#x017F;t legen,<lb/>
daß &#x017F;ie in einem &#x017F;o &#x017F;chlechten An&#x017F;ehen &#x017F;tehen. Es<lb/>
fehlt ihr weder an Nachdruck noch an Ausdru&#x0364;-<lb/>
kungen. Sie klingt zwar nicht lieblich in den<lb/>
Ohren; aber was thut das dem &#x017F;cho&#x0364;nen Gedan-<lb/>
ken, und der ge&#x017F;chickten Ausbildung der&#x017F;elben?<lb/>
Be&#x017F;teht etwann die Scho&#x0364;nheit der Poe&#x017F;ie u&#x0364;ber-<lb/>
haupt nur in der Lieblichkeit der Sprache; und<lb/>
nicht vielmehr in gru&#x0364;ndlichen Gedancken, in arti-<lb/>
gen und ge&#x017F;chickten Ausbildungen? Wer darf<lb/>
nun behaupten, daß die deut&#x017F;che Sprache &#x017F;ich<lb/>
zu die&#x017F;en Sachen nicht &#x017F;chicke? Hat &#x017F;ie denn<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0030] Mauvillons Brief Des Herrn von Mauvillon Brief von den deutſchen Poeten. EUre Nachbarn haben ſich bisdahin einge- bildet, eure Sprache waͤre Schuld dar- an, daß ihr keine guten Poeten haͤttet. Jn dieſen Gedancken ſteht der Urheber der Juͤ- diſchen Briefe, der, wiewohl er ſonſt viel gu- tes hat, ſich in dieſem, wie in viel andern Din- gen, betrogen hat. Giebt es denn eine Spra- che in der Welt, die einen treflichen Poeten aus einem Menſchen machen koͤnne, der von Natur kein Geſchicke dazu hat? Man muͤßte thoͤrigt ſeyn, wenn man dieſes nur gedencken wollte. Und wie kan man begreiffen, daß eine Sprache ſey, die erhabenen Geiſtern im Wege ſtehe, und ſie hindere, daß ſie ſich nicht emporſchwin- gen koͤnnen? Demnach muͤſſen es eure Poe- ten nicht der deutſchen Sprache zur Laſt legen, daß ſie in einem ſo ſchlechten Anſehen ſtehen. Es fehlt ihr weder an Nachdruck noch an Ausdruͤ- kungen. Sie klingt zwar nicht lieblich in den Ohren; aber was thut das dem ſchoͤnen Gedan- ken, und der geſchickten Ausbildung derſelben? Beſteht etwann die Schoͤnheit der Poeſie uͤber- haupt nur in der Lieblichkeit der Sprache; und nicht vielmehr in gruͤndlichen Gedancken, in arti- gen und geſchickten Ausbildungen? Wer darf nun behaupten, daß die deutſche Sprache ſich zu dieſen Sachen nicht ſchicke? Hat ſie denn eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742/30
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742/30>, abgerufen am 29.03.2024.