Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Erstes Buch. Der Statsbegriff.

Vor einer so hohen geistigen Erfassung des States konnte
die mittelalterliche Lehre, dasz der Stat zur Kirche sich ver-
halte wie der Leib zum Geiste, unmöglich bestehen.

Die historische Schule nahm aber den Stat an wie er
geworden war; und der auf die Vergangenheit gewendete
Blick wurde von den Bildern des untergegangenen Lebens so
mächtig angezogen, dasz viele Anhänger dieser Richtung dar-
über das Verständnisz der Gegenwart und die Neigung an
der Vervollkommnung der öffentlichen Zustände mitzuwirken
einbüszten. Konnte man einem groszen Theil der naturrecht-
lichen Schule vorwerfen, dasz ihre Statsidee ein Spielball der
individuellen Willkür sei, so war auch die historische Schule
nicht von dem Vorwurf freizusprechen, dasz ihr Statsbegriff
noch festgebunden sei an die herkömmlichen Autoritäten und
an die überlieferten Vorurtheile. 11

6. Neuere deutsche Statsphilosophen. Hegel.
Stahl. Obwohl die Arbeiten der historischen Schule fast
ausschlieszlich auf die Rechtsgeschichte und die politische Ge-
schichte einzelner bestimmter Staten beschränkt blieben, so

Jene glänzende Aeuszerung des Staatsmannes erinnert an die nicht min-
der erhebenden Worte Shakespeare's (Troilus und Cress. III. 3.):
"Ein tief Geheimnisz wohnt (dem die Geschichte
Stets fremd geblieben) in des States Seele:
Desz Wirksamkeit so göttlicher Natur,
Dasz Sprache nicht noch Feder sie kann deuten."
Vgl. auch Shakespeare's König Heinrich V. -- 1. 2.:
Exeter: "Dein Regiment, zwar hoch und tief und tiefer
Vertheilt an Glieder, hält den Einklang doch
Und stimmt zu einem vollen reinen Schlusz,
So wie Musik."
Canterbury: "Sehr wahr! Drum theilt der Himmel
Der Menschen Stand in mancherlei Beruf,
Und setzt Bestrebung in beständ'gen Gang,
Dem als zum Ziel Gehorsam ist gestellt."
11 In den Schriften von De Maistre und Ludwig Haller nahm
die geschichtliche Richtung geradezu einen reactionären, die Rückkehr in
mittelalterliche Zustände verlangenden Charakter an.
Erstes Buch. Der Statsbegriff.

Vor einer so hohen geistigen Erfassung des States konnte
die mittelalterliche Lehre, dasz der Stat zur Kirche sich ver-
halte wie der Leib zum Geiste, unmöglich bestehen.

Die historische Schule nahm aber den Stat an wie er
geworden war; und der auf die Vergangenheit gewendete
Blick wurde von den Bildern des untergegangenen Lebens so
mächtig angezogen, dasz viele Anhänger dieser Richtung dar-
über das Verständnisz der Gegenwart und die Neigung an
der Vervollkommnung der öffentlichen Zustände mitzuwirken
einbüszten. Konnte man einem groszen Theil der naturrecht-
lichen Schule vorwerfen, dasz ihre Statsidee ein Spielball der
individuellen Willkür sei, so war auch die historische Schule
nicht von dem Vorwurf freizusprechen, dasz ihr Statsbegriff
noch festgebunden sei an die herkömmlichen Autoritäten und
an die überlieferten Vorurtheile. 11

6. Neuere deutsche Statsphilosophen. Hegel.
Stahl. Obwohl die Arbeiten der historischen Schule fast
ausschlieszlich auf die Rechtsgeschichte und die politische Ge-
schichte einzelner bestimmter Staten beschränkt blieben, so

Jene glänzende Aeuszerung des Staatsmannes erinnert an die nicht min-
der erhebenden Worte Shakespeare's (Troilus und Cress. III. 3.):
„Ein tief Geheimnisz wohnt (dem die Geschichte
Stets fremd geblieben) in des States Seele:
Desz Wirksamkeit so göttlicher Natur,
Dasz Sprache nicht noch Feder sie kann deuten.“
Vgl. auch Shakespeare's König Heinrich V. — 1. 2.:
Exeter: „Dein Regiment, zwar hoch und tief und tiefer
Vertheilt an Glieder, hält den Einklang doch
Und stimmt zu einem vollen reinen Schlusz,
So wie Musik.“
Canterbury: „Sehr wahr! Drum theilt der Himmel
Der Menschen Stand in mancherlei Beruf,
Und setzt Bestrebung in beständ'gen Gang,
Dem als zum Ziel Gehorsam ist gestellt.“
11 In den Schriften von De Maistre und Ludwig Haller nahm
die geschichtliche Richtung geradezu einen reactionären, die Rückkehr in
mittelalterliche Zustände verlangenden Charakter an.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0096" n="78"/>
          <fw place="top" type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/>
          <p>Vor einer so hohen geistigen Erfassung des States konnte<lb/>
die mittelalterliche Lehre, dasz der Stat zur Kirche sich ver-<lb/>
halte wie der Leib zum Geiste, unmöglich bestehen.</p><lb/>
          <p>Die historische Schule nahm aber den Stat an wie er<lb/><hi rendition="#g">geworden</hi> war; und der auf die Vergangenheit gewendete<lb/>
Blick wurde von den Bildern des untergegangenen Lebens so<lb/>
mächtig angezogen, dasz viele Anhänger dieser Richtung dar-<lb/>
über das Verständnisz der Gegenwart und die Neigung an<lb/>
der Vervollkommnung der öffentlichen Zustände mitzuwirken<lb/>
einbüszten. Konnte man einem groszen Theil der naturrecht-<lb/>
lichen Schule vorwerfen, dasz ihre Statsidee ein Spielball der<lb/>
individuellen Willkür sei, so war auch die historische Schule<lb/>
nicht von dem Vorwurf freizusprechen, dasz ihr Statsbegriff<lb/>
noch festgebunden sei an die herkömmlichen Autoritäten und<lb/>
an die überlieferten Vorurtheile. <note place="foot" n="11">In den Schriften von <hi rendition="#g">De Maistre</hi> und <hi rendition="#g">Ludwig Haller</hi> nahm<lb/>
die geschichtliche Richtung geradezu einen reactionären, die Rückkehr in<lb/>
mittelalterliche Zustände verlangenden Charakter an.</note></p><lb/>
          <p>6. <hi rendition="#g">Neuere deutsche Statsphilosophen</hi>. <hi rendition="#g">Hegel</hi>.<lb/><hi rendition="#g">Stahl</hi>. Obwohl die Arbeiten der historischen Schule fast<lb/>
ausschlieszlich auf die Rechtsgeschichte und die politische Ge-<lb/>
schichte einzelner bestimmter Staten beschränkt blieben, so<lb/><note xml:id="note-0096" prev="#note-0095" place="foot" n="10">Jene glänzende Aeuszerung des Staatsmannes erinnert an die nicht min-<lb/>
der erhebenden Worte <hi rendition="#g">Shakespeare's</hi> (Troilus und Cress. III. 3.):<lb/><lg type="poem"><l>&#x201E;Ein tief Geheimnisz wohnt (dem die Geschichte</l><lb/><l>Stets fremd geblieben) in des States Seele:</l><lb/><l>Desz Wirksamkeit so göttlicher Natur,</l><lb/><l>Dasz Sprache nicht noch Feder sie kann deuten.&#x201C;</l></lg><lb/><p>Vgl. auch <hi rendition="#g">Shakespeare's</hi> König Heinrich V. &#x2014; 1. 2.:</p><lb/><lg type="poem"><l>Exeter: &#x201E;Dein Regiment, zwar hoch und tief und tiefer</l><lb/><l>Vertheilt an Glieder, hält den Einklang doch</l><lb/><l>Und stimmt zu einem vollen reinen Schlusz,</l><lb/><l>So wie Musik.&#x201C;</l></lg><lb/><lg type="poem"><l>Canterbury: &#x201E;Sehr wahr! Drum theilt der Himmel</l><lb/><l>Der Menschen Stand in mancherlei Beruf,</l><lb/><l>Und setzt Bestrebung in beständ'gen Gang,</l><lb/><l>Dem als zum Ziel Gehorsam ist gestellt.&#x201C;</l></lg></note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0096] Erstes Buch. Der Statsbegriff. Vor einer so hohen geistigen Erfassung des States konnte die mittelalterliche Lehre, dasz der Stat zur Kirche sich ver- halte wie der Leib zum Geiste, unmöglich bestehen. Die historische Schule nahm aber den Stat an wie er geworden war; und der auf die Vergangenheit gewendete Blick wurde von den Bildern des untergegangenen Lebens so mächtig angezogen, dasz viele Anhänger dieser Richtung dar- über das Verständnisz der Gegenwart und die Neigung an der Vervollkommnung der öffentlichen Zustände mitzuwirken einbüszten. Konnte man einem groszen Theil der naturrecht- lichen Schule vorwerfen, dasz ihre Statsidee ein Spielball der individuellen Willkür sei, so war auch die historische Schule nicht von dem Vorwurf freizusprechen, dasz ihr Statsbegriff noch festgebunden sei an die herkömmlichen Autoritäten und an die überlieferten Vorurtheile. 11 6. Neuere deutsche Statsphilosophen. Hegel. Stahl. Obwohl die Arbeiten der historischen Schule fast ausschlieszlich auf die Rechtsgeschichte und die politische Ge- schichte einzelner bestimmter Staten beschränkt blieben, so 10 11 In den Schriften von De Maistre und Ludwig Haller nahm die geschichtliche Richtung geradezu einen reactionären, die Rückkehr in mittelalterliche Zustände verlangenden Charakter an. 10 Jene glänzende Aeuszerung des Staatsmannes erinnert an die nicht min- der erhebenden Worte Shakespeare's (Troilus und Cress. III. 3.): „Ein tief Geheimnisz wohnt (dem die Geschichte Stets fremd geblieben) in des States Seele: Desz Wirksamkeit so göttlicher Natur, Dasz Sprache nicht noch Feder sie kann deuten.“ Vgl. auch Shakespeare's König Heinrich V. — 1. 2.: Exeter: „Dein Regiment, zwar hoch und tief und tiefer Vertheilt an Glieder, hält den Einklang doch Und stimmt zu einem vollen reinen Schlusz, So wie Musik.“ Canterbury: „Sehr wahr! Drum theilt der Himmel Der Menschen Stand in mancherlei Beruf, Und setzt Bestrebung in beständ'gen Gang, Dem als zum Ziel Gehorsam ist gestellt.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/96
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/96>, abgerufen am 20.04.2024.