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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
gedeihen einige Jahrhunderte und gehen endlich wieder unter."
Aber die Wissenschaft hatte diese Einsicht so sehr vernach-
läszigt, dasz die Erneuerung derselben von Seite der histori-
schen Schule wie eine neue Entdeckung wirkte, und die Fort-
bildung der Wissenschaft doch nun eine ganz andere und
fruchtbarere Richtung nahm. Indessen war die historische
Schule geneigt, den Begriff des States zu sehr als einen blosz
nationalen
aufzufassen, und die höhere menschliche Be-
deutung desselben zu übersehen, oder geradezu zu bestreiten.
So erklärte Savigny den Stat als "die leibliche Gestalt der
geistigen Volksgemeinschaft," als "die organische Erscheinung
des Volks." 9 Der geniale Engländer Edm. Burke aber
brachte den historischen Stat, indem er die revolutionäre
Theorie bekämpfte, wieder in den Lichtkreis der göttlichen
Weltordnung in jener berühmten Stelle seiner Betrachtungen
über die französische Revolution: "Der Stat ist nicht eine
Genossenschaft in Dingen, welche nur dem rohen leiblichen
Dasein einer kurze Zeit währenden und vergänglichen Natur
frohnden. Er ist eine Genossenschaft in aller Wissenschaft,
in aller Kunst, in jeder Tugend und in jeder Vollkommenheit.
Da eine derartige Genossenschaft ihr Ziel nicht in einigen
Generationen erreichen kann, so wird sie zu einer Genossen-
schaft, welche nicht allein die Lebenden verbindet, sondern
auch die, welche bereits gestorben sind und die, welche noch
geboren werden. Jeder besondere Statsvertrag ist nur eine
Klausel in dem grossen Urvertrage der ewigen Weltordnung,
welcher die niedern Wesen mit den höhern verkettet, die sicht-
bare und die unsichtbare Welt verbindet und zu einem festen
Rechtsverhältnisz zusammenstimmt, das durch den unverletz-
baren Eid geheiligt wird, welcher alle physischen und mora-
lischen Naturen jede an ihrem angewiesenen Platze festhält." 10


9 Savigny, Syst. des röm. Rechts. I. S. 22.
10 Edm. Burke, Reflect. on the revol. in France. Vgl. auch Leo,
Weltgeschichte VI. S. 759, der die Gedanken Burke's weiter ausführt.

Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
gedeihen einige Jahrhunderte und gehen endlich wieder unter.“
Aber die Wissenschaft hatte diese Einsicht so sehr vernach-
läszigt, dasz die Erneuerung derselben von Seite der histori-
schen Schule wie eine neue Entdeckung wirkte, und die Fort-
bildung der Wissenschaft doch nun eine ganz andere und
fruchtbarere Richtung nahm. Indessen war die historische
Schule geneigt, den Begriff des States zu sehr als einen blosz
nationalen
aufzufassen, und die höhere menschliche Be-
deutung desselben zu übersehen, oder geradezu zu bestreiten.
So erklärte Savigny den Stat als „die leibliche Gestalt der
geistigen Volksgemeinschaft,“ als „die organische Erscheinung
des Volks.“ 9 Der geniale Engländer Edm. Burke aber
brachte den historischen Stat, indem er die revolutionäre
Theorie bekämpfte, wieder in den Lichtkreis der göttlichen
Weltordnung in jener berühmten Stelle seiner Betrachtungen
über die französische Revolution: „Der Stat ist nicht eine
Genossenschaft in Dingen, welche nur dem rohen leiblichen
Dasein einer kurze Zeit währenden und vergänglichen Natur
frohnden. Er ist eine Genossenschaft in aller Wissenschaft,
in aller Kunst, in jeder Tugend und in jeder Vollkommenheit.
Da eine derartige Genossenschaft ihr Ziel nicht in einigen
Generationen erreichen kann, so wird sie zu einer Genossen-
schaft, welche nicht allein die Lebenden verbindet, sondern
auch die, welche bereits gestorben sind und die, welche noch
geboren werden. Jeder besondere Statsvertrag ist nur eine
Klausel in dem grossen Urvertrage der ewigen Weltordnung,
welcher die niedern Wesen mit den höhern verkettet, die sicht-
bare und die unsichtbare Welt verbindet und zu einem festen
Rechtsverhältnisz zusammenstimmt, das durch den unverletz-
baren Eid geheiligt wird, welcher alle physischen und mora-
lischen Naturen jede an ihrem angewiesenen Platze festhält.“ 10


9 Savigny, Syst. des röm. Rechts. I. S. 22.
10 Edm. Burke, Reflect. on the revol. in France. Vgl. auch Leo,
Weltgeschichte VI. S. 759, der die Gedanken Burke's weiter ausführt.
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[77/0095] Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre. gedeihen einige Jahrhunderte und gehen endlich wieder unter.“ Aber die Wissenschaft hatte diese Einsicht so sehr vernach- läszigt, dasz die Erneuerung derselben von Seite der histori- schen Schule wie eine neue Entdeckung wirkte, und die Fort- bildung der Wissenschaft doch nun eine ganz andere und fruchtbarere Richtung nahm. Indessen war die historische Schule geneigt, den Begriff des States zu sehr als einen blosz nationalen aufzufassen, und die höhere menschliche Be- deutung desselben zu übersehen, oder geradezu zu bestreiten. So erklärte Savigny den Stat als „die leibliche Gestalt der geistigen Volksgemeinschaft,“ als „die organische Erscheinung des Volks.“ 9 Der geniale Engländer Edm. Burke aber brachte den historischen Stat, indem er die revolutionäre Theorie bekämpfte, wieder in den Lichtkreis der göttlichen Weltordnung in jener berühmten Stelle seiner Betrachtungen über die französische Revolution: „Der Stat ist nicht eine Genossenschaft in Dingen, welche nur dem rohen leiblichen Dasein einer kurze Zeit währenden und vergänglichen Natur frohnden. Er ist eine Genossenschaft in aller Wissenschaft, in aller Kunst, in jeder Tugend und in jeder Vollkommenheit. Da eine derartige Genossenschaft ihr Ziel nicht in einigen Generationen erreichen kann, so wird sie zu einer Genossen- schaft, welche nicht allein die Lebenden verbindet, sondern auch die, welche bereits gestorben sind und die, welche noch geboren werden. Jeder besondere Statsvertrag ist nur eine Klausel in dem grossen Urvertrage der ewigen Weltordnung, welcher die niedern Wesen mit den höhern verkettet, die sicht- bare und die unsichtbare Welt verbindet und zu einem festen Rechtsverhältnisz zusammenstimmt, das durch den unverletz- baren Eid geheiligt wird, welcher alle physischen und mora- lischen Naturen jede an ihrem angewiesenen Platze festhält.“ 10 9 Savigny, Syst. des röm. Rechts. I. S. 22. 10 Edm. Burke, Reflect. on the revol. in France. Vgl. auch Leo, Weltgeschichte VI. S. 759, der die Gedanken Burke's weiter ausführt.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/95>, abgerufen am 29.03.2024.