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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
höhere geistige Lebensaufgaben zuwies. Aber die meisten
deutschen Philosophen und Juristen der nächsten Generation
hielten sich doch in der Theorie an den engen kantischen
Begriff.

Wir begreifen es, dass der Gedanke bei Vielen Beifall
fand, welche gegen die Vielregiererei der Zeit und gegen die
Polizei- und Militärwillkür Schutz suchten. Aber wenn man
oft den "Rechtsstat" dem "Polizeistat" entgegen gesetzt
und es als die Aufgabe der neuen Zeit bezeichnet hat, diesen
durch jenen zu verdrängen und zu ersetzen, so war man dabei
der reichen Natur des Stats nicht klar bewuszt. Der Stat
darf eben so wenig zum bloszen Rechtsstat werden, als er ein
bloszer Polizeistat sein darf. Die Ausbildung des "Rechtsstats"
einseitig verfolgt, würde zuletzt den Stat zu einer bloszen
Anstalt für Rechtspflege verkrüppeln, in welcher die gesetz-
gebende Gewalt das Recht im allgemeinen festsetzen, das Ge-
richt dasselbe im einzelnen Falle zur Anerkennung bringen
und schützen würde, und der Regierung fast keine andere
Thätigkeit als die eines Gerichtsdieners oder der Gendarmerie
übrig bliebe. Die nationalen Interessen der Wirthschaft, der
Bildung, der Machtentfaltung würden verkümmern und von
einer groszen Politik könnte nicht mehr die Rede sein.
Umgekehrt würde eine einseitige Ausbildung des "Polizei-
states" am Ende jede individuelle Rechtssicherheit und Frei-
heit der ausschlieszlichen Rücksicht auf das, was dem Ganzen
nützlich scheint, zum Opfer bringen und eine unerträgliche
Bevormundung freier Männer herbeiführen.

Versteht man daher unter Rechtsstat

1) den Gedanken, dasz der Stat nur eine Anstalt sei,
um die Rechte der Individuen zu schützen, so wird offenbar
das ganze Staatsrecht zu einem bloszen Mittel für das Privat-
recht, und der Stat zum bloszen Diener der Privatpersonen
erniedrigt.

Versteht man ferner unter "Rechtsstat"


Erstes Buch. Der Statsbegriff.
höhere geistige Lebensaufgaben zuwies. Aber die meisten
deutschen Philosophen und Juristen der nächsten Generation
hielten sich doch in der Theorie an den engen kantischen
Begriff.

Wir begreifen es, dass der Gedanke bei Vielen Beifall
fand, welche gegen die Vielregiererei der Zeit und gegen die
Polizei- und Militärwillkür Schutz suchten. Aber wenn man
oft den „Rechtsstat“ dem „Polizeistat“ entgegen gesetzt
und es als die Aufgabe der neuen Zeit bezeichnet hat, diesen
durch jenen zu verdrängen und zu ersetzen, so war man dabei
der reichen Natur des Stats nicht klar bewuszt. Der Stat
darf eben so wenig zum bloszen Rechtsstat werden, als er ein
bloszer Polizeistat sein darf. Die Ausbildung des „Rechtsstats“
einseitig verfolgt, würde zuletzt den Stat zu einer bloszen
Anstalt für Rechtspflege verkrüppeln, in welcher die gesetz-
gebende Gewalt das Recht im allgemeinen festsetzen, das Ge-
richt dasselbe im einzelnen Falle zur Anerkennung bringen
und schützen würde, und der Regierung fast keine andere
Thätigkeit als die eines Gerichtsdieners oder der Gendarmerie
übrig bliebe. Die nationalen Interessen der Wirthschaft, der
Bildung, der Machtentfaltung würden verkümmern und von
einer groszen Politik könnte nicht mehr die Rede sein.
Umgekehrt würde eine einseitige Ausbildung des „Polizei-
states“ am Ende jede individuelle Rechtssicherheit und Frei-
heit der ausschlieszlichen Rücksicht auf das, was dem Ganzen
nützlich scheint, zum Opfer bringen und eine unerträgliche
Bevormundung freier Männer herbeiführen.

Versteht man daher unter Rechtsstat

1) den Gedanken, dasz der Stat nur eine Anstalt sei,
um die Rechte der Individuen zu schützen, so wird offenbar
das ganze Staatsrecht zu einem bloszen Mittel für das Privat-
recht, und der Stat zum bloszen Diener der Privatpersonen
erniedrigt.

Versteht man ferner unter „Rechtsstat“


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[74/0092] Erstes Buch. Der Statsbegriff. höhere geistige Lebensaufgaben zuwies. Aber die meisten deutschen Philosophen und Juristen der nächsten Generation hielten sich doch in der Theorie an den engen kantischen Begriff. Wir begreifen es, dass der Gedanke bei Vielen Beifall fand, welche gegen die Vielregiererei der Zeit und gegen die Polizei- und Militärwillkür Schutz suchten. Aber wenn man oft den „Rechtsstat“ dem „Polizeistat“ entgegen gesetzt und es als die Aufgabe der neuen Zeit bezeichnet hat, diesen durch jenen zu verdrängen und zu ersetzen, so war man dabei der reichen Natur des Stats nicht klar bewuszt. Der Stat darf eben so wenig zum bloszen Rechtsstat werden, als er ein bloszer Polizeistat sein darf. Die Ausbildung des „Rechtsstats“ einseitig verfolgt, würde zuletzt den Stat zu einer bloszen Anstalt für Rechtspflege verkrüppeln, in welcher die gesetz- gebende Gewalt das Recht im allgemeinen festsetzen, das Ge- richt dasselbe im einzelnen Falle zur Anerkennung bringen und schützen würde, und der Regierung fast keine andere Thätigkeit als die eines Gerichtsdieners oder der Gendarmerie übrig bliebe. Die nationalen Interessen der Wirthschaft, der Bildung, der Machtentfaltung würden verkümmern und von einer groszen Politik könnte nicht mehr die Rede sein. Umgekehrt würde eine einseitige Ausbildung des „Polizei- states“ am Ende jede individuelle Rechtssicherheit und Frei- heit der ausschlieszlichen Rücksicht auf das, was dem Ganzen nützlich scheint, zum Opfer bringen und eine unerträgliche Bevormundung freier Männer herbeiführen. Versteht man daher unter Rechtsstat 1) den Gedanken, dasz der Stat nur eine Anstalt sei, um die Rechte der Individuen zu schützen, so wird offenbar das ganze Staatsrecht zu einem bloszen Mittel für das Privat- recht, und der Stat zum bloszen Diener der Privatpersonen erniedrigt. Versteht man ferner unter „Rechtsstat“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/92>, abgerufen am 29.03.2024.