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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
diese Züge doch, dasz wir nur die erste Entwicklungs-
stufe
dieser männlichen Zeit erlebt haben, welche noch
ebenso ein unreifes jugendliches, zuweilen kindliches Antlitz
trägt, wie die letzten Jahrhunderte des Mittelalters ein ält-
liches Aussehen haben. Das organisch-psychologische Gesetz
der Altersentwicklung bestimmt nicht blosz das Gesammt-
leben der Menschheit in seinen Weltaltern, es wiederholt sich
in fortgesetztem Kreislauf auch in den einzelnen Perioden
innerhalb der verschiedenen Weltalter.

Wir datiren also das Moderne Weltalter seit dem
Jahre 1740. Die Erhebung des preuszischen Königs-
states
, die Josephinische Bewegung in Oesterreich,
die Gründung der nordamerikanischen Union, die
Wandlungen der französischen Revolution und der
Napoleonische Staat, die Verpflanzung der constitu-
tionellen Monarchie
aus England in die Continental-
staten, die Versuche, die repräsentative Demokratie
einzuführen, die Gründung nationaler Staten, die Los-
schälung des öffentlichen Rechts von der confessionellen
Umhüllung, die Sonderung oder Trennung von Stat und
Kirche, die Beseitigung alles Feudalismus, aller
ständischen Privilegien, die Erhebung des einheit-
lichen Volksbegriffs
und die Anerkennung der freien
Gesellschaft
sind sämmtlich theils erste Versuche, theils
erste Gestaltungen und Wirkungen des modernen Gesammt-
lebens und daher auch des modernen States.

Anmerkung. Wir sind gewohnt, die Geschichte der Menschheit
in ihrem innern Zusammenhang und in geregelter Folge zu betrachten.
Wir unterscheiden daher die verschiedenen Weltalter ähnlich wie wir
die Lebensalter der Einzelmenschen unterscheiden. Wir sprechen von
einem Kindesalter, von einem Jugendalter der Menschheit, und schlieszen
dieses mit der classischen Periode des hellenischen und römischen Cultur-
lebens ab. In dieser Weise scheiden wir auch das Mittelalter von den
jugendlich-genialen Weltaltern der alten Griechen und Römer ab und
ebenso nach der anderen Seite von der reiferen und männlicheren Neuzeit.


Erstes Buch. Der Statsbegriff.
diese Züge doch, dasz wir nur die erste Entwicklungs-
stufe
dieser männlichen Zeit erlebt haben, welche noch
ebenso ein unreifes jugendliches, zuweilen kindliches Antlitz
trägt, wie die letzten Jahrhunderte des Mittelalters ein ält-
liches Aussehen haben. Das organisch-psychologische Gesetz
der Altersentwicklung bestimmt nicht blosz das Gesammt-
leben der Menschheit in seinen Weltaltern, es wiederholt sich
in fortgesetztem Kreislauf auch in den einzelnen Perioden
innerhalb der verschiedenen Weltalter.

Wir datiren also das Moderne Weltalter seit dem
Jahre 1740. Die Erhebung des preuszischen Königs-
states
, die Josephinische Bewegung in Oesterreich,
die Gründung der nordamerikanischen Union, die
Wandlungen der französischen Revolution und der
Napoleonische Staat, die Verpflanzung der constitu-
tionellen Monarchie
aus England in die Continental-
staten, die Versuche, die repräsentative Demokratie
einzuführen, die Gründung nationaler Staten, die Los-
schälung des öffentlichen Rechts von der confessionellen
Umhüllung, die Sonderung oder Trennung von Stat und
Kirche, die Beseitigung alles Feudalismus, aller
ständischen Privilegien, die Erhebung des einheit-
lichen Volksbegriffs
und die Anerkennung der freien
Gesellschaft
sind sämmtlich theils erste Versuche, theils
erste Gestaltungen und Wirkungen des modernen Gesammt-
lebens und daher auch des modernen States.

Anmerkung. Wir sind gewohnt, die Geschichte der Menschheit
in ihrem innern Zusammenhang und in geregelter Folge zu betrachten.
Wir unterscheiden daher die verschiedenen Weltalter ähnlich wie wir
die Lebensalter der Einzelmenschen unterscheiden. Wir sprechen von
einem Kindesalter, von einem Jugendalter der Menschheit, und schlieszen
dieses mit der classischen Periode des hellenischen und römischen Cultur-
lebens ab. In dieser Weise scheiden wir auch das Mittelalter von den
jugendlich-genialen Weltaltern der alten Griechen und Römer ab und
ebenso nach der anderen Seite von der reiferen und männlicheren Neuzeit.


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[58/0076] Erstes Buch. Der Statsbegriff. diese Züge doch, dasz wir nur die erste Entwicklungs- stufe dieser männlichen Zeit erlebt haben, welche noch ebenso ein unreifes jugendliches, zuweilen kindliches Antlitz trägt, wie die letzten Jahrhunderte des Mittelalters ein ält- liches Aussehen haben. Das organisch-psychologische Gesetz der Altersentwicklung bestimmt nicht blosz das Gesammt- leben der Menschheit in seinen Weltaltern, es wiederholt sich in fortgesetztem Kreislauf auch in den einzelnen Perioden innerhalb der verschiedenen Weltalter. Wir datiren also das Moderne Weltalter seit dem Jahre 1740. Die Erhebung des preuszischen Königs- states, die Josephinische Bewegung in Oesterreich, die Gründung der nordamerikanischen Union, die Wandlungen der französischen Revolution und der Napoleonische Staat, die Verpflanzung der constitu- tionellen Monarchie aus England in die Continental- staten, die Versuche, die repräsentative Demokratie einzuführen, die Gründung nationaler Staten, die Los- schälung des öffentlichen Rechts von der confessionellen Umhüllung, die Sonderung oder Trennung von Stat und Kirche, die Beseitigung alles Feudalismus, aller ständischen Privilegien, die Erhebung des einheit- lichen Volksbegriffs und die Anerkennung der freien Gesellschaft sind sämmtlich theils erste Versuche, theils erste Gestaltungen und Wirkungen des modernen Gesammt- lebens und daher auch des modernen States. Anmerkung. Wir sind gewohnt, die Geschichte der Menschheit in ihrem innern Zusammenhang und in geregelter Folge zu betrachten. Wir unterscheiden daher die verschiedenen Weltalter ähnlich wie wir die Lebensalter der Einzelmenschen unterscheiden. Wir sprechen von einem Kindesalter, von einem Jugendalter der Menschheit, und schlieszen dieses mit der classischen Periode des hellenischen und römischen Cultur- lebens ab. In dieser Weise scheiden wir auch das Mittelalter von den jugendlich-genialen Weltaltern der alten Griechen und Römer ab und ebenso nach der anderen Seite von der reiferen und männlicheren Neuzeit.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/76>, abgerufen am 29.03.2024.