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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.

3. Diese Erwägung hindert uns auch, den Anfang des
modernen Weltalters in der englischen Revolution zu
erkennen, sei es der Revolution von 1640, sei es der soge-
nannten "glorreichen" Revolution von 1688. Gewisz brachte
auch sie Neues. Die constitutionelle Monarchie kam
nun zum Durchbruch. Jede sorgfältigere Vergleichung aber
der englischen mit der französischen Revolution bestärkt unsere
Wahrnehmung, dasz jene noch in das Ende des Mittelalters,
diese in die Neuzeit gehört. Die Engländer kämpften noch
vorzugsweise für die alte angelsächsische Volksfreiheit und
die hergebrachten Rechte des Parlaments wider den Absolu-
tismus des Königs, während die Franzosen eine neue ratio-
nelle Gestaltung des Stats und eine neue gesellschaftliche
Freiheit zu verwirklichen suchten.

4. Viele sehen desshalb in dem Zeitalter der französi-
schen Revolution
die ersten entschiedenen Regungen der
modernen Zeit und datiren dieselbe von 1789 an. Die An-
nahme schmeichelt überdem der französischen Eitelkeit. Aber
wenn gleich es unbestreitbar ist, dasz die französische Revo-
lution von dem modernen Geiste erfüllt und bewegt ist, so
hat derselbe doch früher schon seine Schwingen zu regen be-
gonnen. Das Zeitalter der Aufklärung ging voran und
trägt bereits den unverkennbaren Stempel der Neuzeit.

Schon Manche haben es bemerkt, insbesondere auch
Thomas Buckle, der gelehrte Verfasser der Geschichte der
neueren Civilisation, dasz mit dem Jahre 1740 eine veränderte
Strömung der Geister sichtbar wird. Wie die Sonne zuerst die
Spitzen der Berge beleuchtet und dann erst mit ihren Strahlen
in die Thäler niedersteigt, so zeigt sich der neue Geist zuerst
in hervorragenden Menschen, und breitet sich nur allmählich
aus über die Menge. Aber in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts sind es doch nicht blosz wenige Auserwählte, nicht
blosze Vorläufer und Propheten einer kommenden Zeit, die
von dem neuen Geiste ergriffen werden. Ueberall steigen neue

Erstes Buch. Der Statsbegriff.

3. Diese Erwägung hindert uns auch, den Anfang des
modernen Weltalters in der englischen Revolution zu
erkennen, sei es der Revolution von 1640, sei es der soge-
nannten „glorreichen“ Revolution von 1688. Gewisz brachte
auch sie Neues. Die constitutionelle Monarchie kam
nun zum Durchbruch. Jede sorgfältigere Vergleichung aber
der englischen mit der französischen Revolution bestärkt unsere
Wahrnehmung, dasz jene noch in das Ende des Mittelalters,
diese in die Neuzeit gehört. Die Engländer kämpften noch
vorzugsweise für die alte angelsächsische Volksfreiheit und
die hergebrachten Rechte des Parlaments wider den Absolu-
tismus des Königs, während die Franzosen eine neue ratio-
nelle Gestaltung des Stats und eine neue gesellschaftliche
Freiheit zu verwirklichen suchten.

4. Viele sehen desshalb in dem Zeitalter der französi-
schen Revolution
die ersten entschiedenen Regungen der
modernen Zeit und datiren dieselbe von 1789 an. Die An-
nahme schmeichelt überdem der französischen Eitelkeit. Aber
wenn gleich es unbestreitbar ist, dasz die französische Revo-
lution von dem modernen Geiste erfüllt und bewegt ist, so
hat derselbe doch früher schon seine Schwingen zu regen be-
gonnen. Das Zeitalter der Aufklärung ging voran und
trägt bereits den unverkennbaren Stempel der Neuzeit.

Schon Manche haben es bemerkt, insbesondere auch
Thomas Buckle, der gelehrte Verfasser der Geschichte der
neueren Civilisation, dasz mit dem Jahre 1740 eine veränderte
Strömung der Geister sichtbar wird. Wie die Sonne zuerst die
Spitzen der Berge beleuchtet und dann erst mit ihren Strahlen
in die Thäler niedersteigt, so zeigt sich der neue Geist zuerst
in hervorragenden Menschen, und breitet sich nur allmählich
aus über die Menge. Aber in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts sind es doch nicht blosz wenige Auserwählte, nicht
blosze Vorläufer und Propheten einer kommenden Zeit, die
von dem neuen Geiste ergriffen werden. Ueberall steigen neue

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[56/0074] Erstes Buch. Der Statsbegriff. 3. Diese Erwägung hindert uns auch, den Anfang des modernen Weltalters in der englischen Revolution zu erkennen, sei es der Revolution von 1640, sei es der soge- nannten „glorreichen“ Revolution von 1688. Gewisz brachte auch sie Neues. Die constitutionelle Monarchie kam nun zum Durchbruch. Jede sorgfältigere Vergleichung aber der englischen mit der französischen Revolution bestärkt unsere Wahrnehmung, dasz jene noch in das Ende des Mittelalters, diese in die Neuzeit gehört. Die Engländer kämpften noch vorzugsweise für die alte angelsächsische Volksfreiheit und die hergebrachten Rechte des Parlaments wider den Absolu- tismus des Königs, während die Franzosen eine neue ratio- nelle Gestaltung des Stats und eine neue gesellschaftliche Freiheit zu verwirklichen suchten. 4. Viele sehen desshalb in dem Zeitalter der französi- schen Revolution die ersten entschiedenen Regungen der modernen Zeit und datiren dieselbe von 1789 an. Die An- nahme schmeichelt überdem der französischen Eitelkeit. Aber wenn gleich es unbestreitbar ist, dasz die französische Revo- lution von dem modernen Geiste erfüllt und bewegt ist, so hat derselbe doch früher schon seine Schwingen zu regen be- gonnen. Das Zeitalter der Aufklärung ging voran und trägt bereits den unverkennbaren Stempel der Neuzeit. Schon Manche haben es bemerkt, insbesondere auch Thomas Buckle, der gelehrte Verfasser der Geschichte der neueren Civilisation, dasz mit dem Jahre 1740 eine veränderte Strömung der Geister sichtbar wird. Wie die Sonne zuerst die Spitzen der Berge beleuchtet und dann erst mit ihren Strahlen in die Thäler niedersteigt, so zeigt sich der neue Geist zuerst in hervorragenden Menschen, und breitet sich nur allmählich aus über die Menge. Aber in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahr- hunderts sind es doch nicht blosz wenige Auserwählte, nicht blosze Vorläufer und Propheten einer kommenden Zeit, die von dem neuen Geiste ergriffen werden. Ueberall steigen neue

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/74>, abgerufen am 25.04.2024.