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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.

Auch der antike Statsbegriff und die antike Statslehre
erleben eine theilweise Erneuerung und wirken auf die öffent-
lichen Zustände ein.

Der Einflusz derselben zeigt sich vornehmlich in folgen-
den Wirkungen. Einzelne kühnere Denker wagen es wieder,
die Entstehung der Staten und das Wesen der statlichen
Obrigkeit in weltlichem Geiste aus menschlichen Erwägungen
zu begründen und zu erklären und daher der theokratischen
Denkweise entgegen zu treten.

Sodann: der Gedanke einer bewuszten, Mittel und Zweck
kalt berechnenden Politik, welche die Leitung des States
und die Herrschaft über die Völker bestimmen, wird in der
Statspraxis und in der Statstheorie entscheidend. Derselbe
gewinnt durch Macchiavelli (1469-1527) seinen schärf-
sten und klarsten Ausdruck. Sowohl seine Discorsi zu Livius,
in denen er die römische Republik verherrlicht, als sein Prin-
cipe, in dem er der fürstlichen Herrschsucht die Wege weist,
sind von dem Geist der politischen Renaissance erfüllt.

Ferner die Erneuerung eines statlichen Imperium und
einer statlichen Souveränetät, vor deren zwingender Ein-
heitsgewalt sich Alles beugen musz. In der Hand des Fürsten,
der den Stat beherrscht, wird diese Statsgewalt, in schroffem
Gegensatze zu allem Lehenswesen und zu allen ständischen
Schranken des Mittelalters, zu einem Absolutismus gesteigert,
der wohl an den Absolutismus der römischen Kaiser erinnert.

Endlich offenbart sich dieselbe Renaissance auch in der
Form des Widerspruchs, zu welchem diese ins Schrankenlose
wachsende "Tyrannei" reizt. Mit der Erinnerung an die Cäsare
wird auch wieder die Erinnerung an Brutus geweckt, und
der Tyrannenmord wird als republikanische Tugend gepriesen.
Selbst die Catilinarier wiederholen sich als Verschwörer.1

Aber alle diese "Wiedergeburt" antiker Statsideen

1 Burckhard. Die Renaissance. S. 44 ff.
Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.

Auch der antike Statsbegriff und die antike Statslehre
erleben eine theilweise Erneuerung und wirken auf die öffent-
lichen Zustände ein.

Der Einflusz derselben zeigt sich vornehmlich in folgen-
den Wirkungen. Einzelne kühnere Denker wagen es wieder,
die Entstehung der Staten und das Wesen der statlichen
Obrigkeit in weltlichem Geiste aus menschlichen Erwägungen
zu begründen und zu erklären und daher der theokratischen
Denkweise entgegen zu treten.

Sodann: der Gedanke einer bewuszten, Mittel und Zweck
kalt berechnenden Politik, welche die Leitung des States
und die Herrschaft über die Völker bestimmen, wird in der
Statspraxis und in der Statstheorie entscheidend. Derselbe
gewinnt durch Macchiavelli (1469-1527) seinen schärf-
sten und klarsten Ausdruck. Sowohl seine Discorsi zu Livius,
in denen er die römische Republik verherrlicht, als sein Prin-
cipe, in dem er der fürstlichen Herrschsucht die Wege weist,
sind von dem Geist der politischen Renaissance erfüllt.

Ferner die Erneuerung eines statlichen Imperium und
einer statlichen Souveränetät, vor deren zwingender Ein-
heitsgewalt sich Alles beugen musz. In der Hand des Fürsten,
der den Stat beherrscht, wird diese Statsgewalt, in schroffem
Gegensatze zu allem Lehenswesen und zu allen ständischen
Schranken des Mittelalters, zu einem Absolutismus gesteigert,
der wohl an den Absolutismus der römischen Kaiser erinnert.

Endlich offenbart sich dieselbe Renaissance auch in der
Form des Widerspruchs, zu welchem diese ins Schrankenlose
wachsende „Tyrannei“ reizt. Mit der Erinnerung an die Cäsare
wird auch wieder die Erinnerung an Brutus geweckt, und
der Tyrannenmord wird als republikanische Tugend gepriesen.
Selbst die Catilinarier wiederholen sich als Verschwörer.1

Aber alle diese „Wiedergeburt“ antiker Statsideen

1 Burckhard. Die Renaissance. S. 44 ff.
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[51/0069] Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter. Auch der antike Statsbegriff und die antike Statslehre erleben eine theilweise Erneuerung und wirken auf die öffent- lichen Zustände ein. Der Einflusz derselben zeigt sich vornehmlich in folgen- den Wirkungen. Einzelne kühnere Denker wagen es wieder, die Entstehung der Staten und das Wesen der statlichen Obrigkeit in weltlichem Geiste aus menschlichen Erwägungen zu begründen und zu erklären und daher der theokratischen Denkweise entgegen zu treten. Sodann: der Gedanke einer bewuszten, Mittel und Zweck kalt berechnenden Politik, welche die Leitung des States und die Herrschaft über die Völker bestimmen, wird in der Statspraxis und in der Statstheorie entscheidend. Derselbe gewinnt durch Macchiavelli (1469-1527) seinen schärf- sten und klarsten Ausdruck. Sowohl seine Discorsi zu Livius, in denen er die römische Republik verherrlicht, als sein Prin- cipe, in dem er der fürstlichen Herrschsucht die Wege weist, sind von dem Geist der politischen Renaissance erfüllt. Ferner die Erneuerung eines statlichen Imperium und einer statlichen Souveränetät, vor deren zwingender Ein- heitsgewalt sich Alles beugen musz. In der Hand des Fürsten, der den Stat beherrscht, wird diese Statsgewalt, in schroffem Gegensatze zu allem Lehenswesen und zu allen ständischen Schranken des Mittelalters, zu einem Absolutismus gesteigert, der wohl an den Absolutismus der römischen Kaiser erinnert. Endlich offenbart sich dieselbe Renaissance auch in der Form des Widerspruchs, zu welchem diese ins Schrankenlose wachsende „Tyrannei“ reizt. Mit der Erinnerung an die Cäsare wird auch wieder die Erinnerung an Brutus geweckt, und der Tyrannenmord wird als republikanische Tugend gepriesen. Selbst die Catilinarier wiederholen sich als Verschwörer. 1 Aber alle diese „Wiedergeburt“ antiker Statsideen 1 Burckhard. Die Renaissance. S. 44 ff.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/69>, abgerufen am 25.04.2024.