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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike
Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse
Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem
statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State
unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche,
die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent-
lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die
Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu-
gleich die Gemeinschaft der Religion und des
Cultus
.

Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares
von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom
ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen
Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es
ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht
gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie-
drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich-
ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre
glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich
selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver-
gleichen; hinter dem "geistigen" Reiche muszte das "leib-
liche" bescheiden zurückstehen. 1 Aber die Zweiheit von Stat
und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt-
sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert
des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet,
als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2

So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun
die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet,
die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward

1 Darüber mehr im zweiten Theil.
2 Hincmari de Ordine Palatii 5: "Duo sunt, quibus principaliter --
mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas." --
Sachsensp. I. 1.: "Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen-
heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike."

Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike
Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse
Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem
statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State
unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche,
die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent-
lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die
Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu-
gleich die Gemeinschaft der Religion und des
Cultus
.

Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares
von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom
ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen
Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es
ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht
gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie-
drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich-
ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre
glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich
selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver-
gleichen; hinter dem „geistigen“ Reiche muszte das „leib-
liche“ bescheiden zurückstehen. 1 Aber die Zweiheit von Stat
und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt-
sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert
des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet,
als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2

So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun
die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet,
die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward

1 Darüber mehr im zweiten Theil.
2 Hincmari de Ordine Palatii 5: „Duo sunt, quibus principaliter —
mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas.“ —
Sachsensp. I. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen-
heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike.“
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[43/0061] Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter. sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche, die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent- lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu- gleich die Gemeinschaft der Religion und des Cultus. Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie- drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich- ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver- gleichen; hinter dem „geistigen“ Reiche muszte das „leib- liche“ bescheiden zurückstehen. 1 Aber die Zweiheit von Stat und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt- sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet, als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2 So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet, die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward 1 Darüber mehr im zweiten Theil. 2 Hincmari de Ordine Palatii 5: „Duo sunt, quibus principaliter — mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas.“ — Sachsensp. I. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen- heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/61>, abgerufen am 29.03.2024.