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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
die Souveränetät der Einzelstaten anerkannt bleibt, kann hier als Vor-
bild dienen.

Zu b) Die Völker haben ihre Mängel und ihre Leidenschaften ähn-
lich den Individuen, und gäbe es kein Völkerrecht, so würden die
schwachen und hülflosen Völker die bequeme Beute der starken und
herrschsüchtigen Völker. Derselbe Grund, auf dem das Völkerrecht ruht,
ist auch die Grundlage des Weltreichs.

Zu c) Die Stärke der Volksstaten -- auch dem Weltreich gegen-
über -- ist die beste Garantie dafür, dasz jene nicht durch dieses unter-
drückt werden; aber so stark ist auch der gröszte Volksstat nicht, um
für sich allein, wenn er im Unrecht ist, den Kampf mit der Welt auf-
zunehmen. Nur wenn Gruppen von Staten oder Parteien einander feind-
lich entgegen treten, wird dann noch ein Krieg möglich sein. In allen
andern Fällen wird sich derselbe in Execution der Weltrechts-
pflege
verwandeln. Da wir durch die beszte Statseinrichtung doch nicht
völlig gegen den Bürgerkrieg gesichert sind, so werden wir auch zu-
frieden sein müssen, wenn die stärkere Ordnung des Völkerrechts den
Statenkrieg seltener macht. Die Vervollkommnung des Rechtes nähert
sich im beszten Falle dem Ideal; sie erreicht es nie.

Zu d) Das Weltreich ist im Verhältnisz zu den Volksstaten unter
allen Umständen weniger übermächtig, als der Volksstat im Verhältnisz
zu den Bürgern; dennoch wird die Freiheit der Bürger nicht bedroht,
sondern geschützt durch die Statsordnung.

Zu e) Nicht alle individuellen Bedürfnisse werden durch den Stat
befriedigt; es gibt auch kosmopolitische Interessen, sowohl geistige
als materielle (Weltwissenschaft, Weltlitteratur, Weltkunst, Welthandel),
die eine volle Befriedigung nur in dem Weltreich finden können; wie
wenig aber heute noch die Rechte ganzer Völker gesichert sind, beweiszt
die europäische und amerikanische Völkergeschichte.

Laurent gründet das Völkerrecht auf die Einheit des Menschen-
geschlechts
, und ein anderer Grund ist nirgends zu finden. Aber
wenn er diese Einheit nur als eine innere erkennt, so fordern meines
Erachtens Logik und Psychologie zugleich, dasz die innere Kraft sich
auch äuszerlich darstelle. Wenn die Menschheit innerlich Ein Wesen
ist, so musz sie sich auch in ihrer vollen Entwicklung als Eine Person
offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstat.

Ich weisz, dasz die Meisten der Mitlebenden diese Idee für einen
Traum halten; aber das darf mich nicht abhalten, meine Ueberzeugung
auszusprechen und zu begründen. Die späteren Geschlechter, vielleicht
erst nach Jahrhunderten, werden über die Streitfrage endgültig ent-
scheiden.



Erstes Buch. Der Statsbegriff.
die Souveränetät der Einzelstaten anerkannt bleibt, kann hier als Vor-
bild dienen.

Zu b) Die Völker haben ihre Mängel und ihre Leidenschaften ähn-
lich den Individuen, und gäbe es kein Völkerrecht, so würden die
schwachen und hülflosen Völker die bequeme Beute der starken und
herrschsüchtigen Völker. Derselbe Grund, auf dem das Völkerrecht ruht,
ist auch die Grundlage des Weltreichs.

Zu c) Die Stärke der Volksstaten — auch dem Weltreich gegen-
über — ist die beste Garantie dafür, dasz jene nicht durch dieses unter-
drückt werden; aber so stark ist auch der gröszte Volksstat nicht, um
für sich allein, wenn er im Unrecht ist, den Kampf mit der Welt auf-
zunehmen. Nur wenn Gruppen von Staten oder Parteien einander feind-
lich entgegen treten, wird dann noch ein Krieg möglich sein. In allen
andern Fällen wird sich derselbe in Execution der Weltrechts-
pflege
verwandeln. Da wir durch die beszte Statseinrichtung doch nicht
völlig gegen den Bürgerkrieg gesichert sind, so werden wir auch zu-
frieden sein müssen, wenn die stärkere Ordnung des Völkerrechts den
Statenkrieg seltener macht. Die Vervollkommnung des Rechtes nähert
sich im beszten Falle dem Ideal; sie erreicht es nie.

Zu d) Das Weltreich ist im Verhältnisz zu den Volksstaten unter
allen Umständen weniger übermächtig, als der Volksstat im Verhältnisz
zu den Bürgern; dennoch wird die Freiheit der Bürger nicht bedroht,
sondern geschützt durch die Statsordnung.

Zu e) Nicht alle individuellen Bedürfnisse werden durch den Stat
befriedigt; es gibt auch kosmopolitische Interessen, sowohl geistige
als materielle (Weltwissenschaft, Weltlitteratur, Weltkunst, Welthandel),
die eine volle Befriedigung nur in dem Weltreich finden können; wie
wenig aber heute noch die Rechte ganzer Völker gesichert sind, beweiszt
die europäische und amerikanische Völkergeschichte.

Laurent gründet das Völkerrecht auf die Einheit des Menschen-
geschlechts
, und ein anderer Grund ist nirgends zu finden. Aber
wenn er diese Einheit nur als eine innere erkennt, so fordern meines
Erachtens Logik und Psychologie zugleich, dasz die innere Kraft sich
auch äuszerlich darstelle. Wenn die Menschheit innerlich Ein Wesen
ist, so musz sie sich auch in ihrer vollen Entwicklung als Eine Person
offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstat.

Ich weisz, dasz die Meisten der Mitlebenden diese Idee für einen
Traum halten; aber das darf mich nicht abhalten, meine Ueberzeugung
auszusprechen und zu begründen. Die späteren Geschlechter, vielleicht
erst nach Jahrhunderten, werden über die Streitfrage endgültig ent-
scheiden.



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[36/0054] Erstes Buch. Der Statsbegriff. die Souveränetät der Einzelstaten anerkannt bleibt, kann hier als Vor- bild dienen. Zu b) Die Völker haben ihre Mängel und ihre Leidenschaften ähn- lich den Individuen, und gäbe es kein Völkerrecht, so würden die schwachen und hülflosen Völker die bequeme Beute der starken und herrschsüchtigen Völker. Derselbe Grund, auf dem das Völkerrecht ruht, ist auch die Grundlage des Weltreichs. Zu c) Die Stärke der Volksstaten — auch dem Weltreich gegen- über — ist die beste Garantie dafür, dasz jene nicht durch dieses unter- drückt werden; aber so stark ist auch der gröszte Volksstat nicht, um für sich allein, wenn er im Unrecht ist, den Kampf mit der Welt auf- zunehmen. Nur wenn Gruppen von Staten oder Parteien einander feind- lich entgegen treten, wird dann noch ein Krieg möglich sein. In allen andern Fällen wird sich derselbe in Execution der Weltrechts- pflege verwandeln. Da wir durch die beszte Statseinrichtung doch nicht völlig gegen den Bürgerkrieg gesichert sind, so werden wir auch zu- frieden sein müssen, wenn die stärkere Ordnung des Völkerrechts den Statenkrieg seltener macht. Die Vervollkommnung des Rechtes nähert sich im beszten Falle dem Ideal; sie erreicht es nie. Zu d) Das Weltreich ist im Verhältnisz zu den Volksstaten unter allen Umständen weniger übermächtig, als der Volksstat im Verhältnisz zu den Bürgern; dennoch wird die Freiheit der Bürger nicht bedroht, sondern geschützt durch die Statsordnung. Zu e) Nicht alle individuellen Bedürfnisse werden durch den Stat befriedigt; es gibt auch kosmopolitische Interessen, sowohl geistige als materielle (Weltwissenschaft, Weltlitteratur, Weltkunst, Welthandel), die eine volle Befriedigung nur in dem Weltreich finden können; wie wenig aber heute noch die Rechte ganzer Völker gesichert sind, beweiszt die europäische und amerikanische Völkergeschichte. Laurent gründet das Völkerrecht auf die Einheit des Menschen- geschlechts, und ein anderer Grund ist nirgends zu finden. Aber wenn er diese Einheit nur als eine innere erkennt, so fordern meines Erachtens Logik und Psychologie zugleich, dasz die innere Kraft sich auch äuszerlich darstelle. Wenn die Menschheit innerlich Ein Wesen ist, so musz sie sich auch in ihrer vollen Entwicklung als Eine Person offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstat. Ich weisz, dasz die Meisten der Mitlebenden diese Idee für einen Traum halten; aber das darf mich nicht abhalten, meine Ueberzeugung auszusprechen und zu begründen. Die späteren Geschlechter, vielleicht erst nach Jahrhunderten, werden über die Streitfrage endgültig ent- scheiden.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/54>, abgerufen am 19.04.2024.