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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.

Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken
wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung
zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort-
zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften
der natürlichen Organismen:

a) Jeder Organismus ist eine Verbindung von leib-
lich-materiellen
Elementen mit belebt-seelischen
Kräften, oder kurz von Seele und Leib.

b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und
bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit Gliedern aus-
gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten
beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch
des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver-
schaffen.

c) Der Organismus hat eine Entwicklung von Innen
heraus und ein äuszeres Wachsthum.

In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur
des States:

a) In dem State sind der Statsgeist und der Stats-
körper
, der Statswille und die wirkenden Statsorgane
nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der Eine Volks-
geist
, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der
gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der Eine
Volkswille
, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen
der Menge, ist der Statswille. Die Statsverfassung mit
ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den
Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches
regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die
Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech-
tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für
die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem
Heere, welches die Stärke des States bedeutet, diese Stats-
verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein
Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und

Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.

Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken
wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung
zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort-
zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften
der natürlichen Organismen:

a) Jeder Organismus ist eine Verbindung von leib-
lich-materiellen
Elementen mit belebt-seelischen
Kräften, oder kurz von Seele und Leib.

b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und
bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit Gliedern aus-
gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten
beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch
des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver-
schaffen.

c) Der Organismus hat eine Entwicklung von Innen
heraus und ein äuszeres Wachsthum.

In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur
des States:

a) In dem State sind der Statsgeist und der Stats-
körper
, der Statswille und die wirkenden Statsorgane
nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der Eine Volks-
geist
, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der
gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der Eine
Volkswille
, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen
der Menge, ist der Statswille. Die Statsverfassung mit
ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den
Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches
regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die
Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech-
tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für
die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem
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verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein
Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und

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[19/0037] Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff. Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort- zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften der natürlichen Organismen: a) Jeder Organismus ist eine Verbindung von leib- lich-materiellen Elementen mit belebt-seelischen Kräften, oder kurz von Seele und Leib. b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit Gliedern aus- gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver- schaffen. c) Der Organismus hat eine Entwicklung von Innen heraus und ein äuszeres Wachsthum. In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur des States: a) In dem State sind der Statsgeist und der Stats- körper, der Statswille und die wirkenden Statsorgane nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der Eine Volks- geist, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der Eine Volkswille, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen der Menge, ist der Statswille. Die Statsverfassung mit ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech- tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem Heere, welches die Stärke des States bedeutet, diese Stats- verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/37>, abgerufen am 24.04.2024.