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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
auch in der Volksrasse am stärksten vollzogen worden ist,
sodann die Franzosen, in denen ebenfalls alt-keltische und
romanische Elemente mit germanischen gemischt worden, zu-
letzt die Preuszen, in denen germanischer Rechtssinn und
männlicher Trotz mit dem Autoritätsbedürfnisz und der Füg-
samkeit der Slaven verbunden worden, haben einen gröszeren
Antheil daran, als viele andere Völker. Das amerikanische
Statsleben ist von dem europäischen abgeleitet, aber es hat
nur in Nordamerika eigenthümliche Fortschritte gemacht.

Die allgemeine Statswissenschaft soll also das gemeinsame
statliche Bewusztsein
der heutigen civilisirten Menschheit
und die Grundbegriffe und wesentlich gemeinsamen
Einrichtungen
darstellen, welche in den besonderen Staten
zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Auch das allgemeine
Statsrecht ist keine blosze Lehre, es hat eine positive Wirk-
samkeit, aber diese Geltung ist nicht eine unmittelbare, da
es keinen allgemeinen Stat gibt, sondern eine durch die be-
sonderen Staten vermittelte. Es hat aber nicht blosz eine
ideale, es hat auch eine reale Wahrheit, so gewisz als die
Menschheit und die Weltgeschichte keine bloszen Gedanken-
dinge, sondern reale Wahrheiten sind.

Anmerkung. Der Gegensatz bei Aristoteles (Rhetor. I. 10. 13.)
zwischen nomos idios (besonderes Recht) und nomos koinos (gemeines
Recht) hat doch noch einen andern Sinn. Unter jenem versteht er das
Recht, welches ein bestimmter Stat für sich hervorgebracht hat, sei es
nun geschrieben oder nicht, unter diesem das von Natur gerechte (phusei
koinon dekaion) ohne Rücksicht auf statliche Gemeinschaft.



Drittes Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft.
auch in der Volksrasse am stärksten vollzogen worden ist,
sodann die Franzosen, in denen ebenfalls alt-keltische und
romanische Elemente mit germanischen gemischt worden, zu-
letzt die Preuszen, in denen germanischer Rechtssinn und
männlicher Trotz mit dem Autoritätsbedürfnisz und der Füg-
samkeit der Slaven verbunden worden, haben einen gröszeren
Antheil daran, als viele andere Völker. Das amerikanische
Statsleben ist von dem europäischen abgeleitet, aber es hat
nur in Nordamerika eigenthümliche Fortschritte gemacht.

Die allgemeine Statswissenschaft soll also das gemeinsame
statliche Bewusztsein
der heutigen civilisirten Menschheit
und die Grundbegriffe und wesentlich gemeinsamen
Einrichtungen
darstellen, welche in den besonderen Staten
zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Auch das allgemeine
Statsrecht ist keine blosze Lehre, es hat eine positive Wirk-
samkeit, aber diese Geltung ist nicht eine unmittelbare, da
es keinen allgemeinen Stat gibt, sondern eine durch die be-
sonderen Staten vermittelte. Es hat aber nicht blosz eine
ideale, es hat auch eine reale Wahrheit, so gewisz als die
Menschheit und die Weltgeschichte keine bloszen Gedanken-
dinge, sondern reale Wahrheiten sind.

Anmerkung. Der Gegensatz bei Aristoteles (Rhetor. I. 10. 13.)
zwischen νόμος ἴδιος (besonderes Recht) und νόμος ϰοινὁς (gemeines
Recht) hat doch noch einen andern Sinn. Unter jenem versteht er das
Recht, welches ein bestimmter Stat für sich hervorgebracht hat, sei es
nun geschrieben oder nicht, unter diesem das von Natur gerechte (φύσει
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[13/0031] Drittes Capitel. Allgemeine und besondere Statswissenschaft. auch in der Volksrasse am stärksten vollzogen worden ist, sodann die Franzosen, in denen ebenfalls alt-keltische und romanische Elemente mit germanischen gemischt worden, zu- letzt die Preuszen, in denen germanischer Rechtssinn und männlicher Trotz mit dem Autoritätsbedürfnisz und der Füg- samkeit der Slaven verbunden worden, haben einen gröszeren Antheil daran, als viele andere Völker. Das amerikanische Statsleben ist von dem europäischen abgeleitet, aber es hat nur in Nordamerika eigenthümliche Fortschritte gemacht. Die allgemeine Statswissenschaft soll also das gemeinsame statliche Bewusztsein der heutigen civilisirten Menschheit und die Grundbegriffe und wesentlich gemeinsamen Einrichtungen darstellen, welche in den besonderen Staten zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Auch das allgemeine Statsrecht ist keine blosze Lehre, es hat eine positive Wirk- samkeit, aber diese Geltung ist nicht eine unmittelbare, da es keinen allgemeinen Stat gibt, sondern eine durch die be- sonderen Staten vermittelte. Es hat aber nicht blosz eine ideale, es hat auch eine reale Wahrheit, so gewisz als die Menschheit und die Weltgeschichte keine bloszen Gedanken- dinge, sondern reale Wahrheiten sind. Anmerkung. Der Gegensatz bei Aristoteles (Rhetor. I. 10. 13.) zwischen νόμος ἴδιος (besonderes Recht) und νόμος ϰοινὁς (gemeines Recht) hat doch noch einen andern Sinn. Unter jenem versteht er das Recht, welches ein bestimmter Stat für sich hervorgebracht hat, sei es nun geschrieben oder nicht, unter diesem das von Natur gerechte (φύσει ϰοινὸν δέϰαιον) ohne Rücksicht auf statliche Gemeinschaft.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/31>, abgerufen am 29.03.2024.