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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat
etc.

Das Christenthum hat in dieser Frage ein neues und
vollkommneres Recht eingeleitet. Christus selbst sprach sich
im Gegensatze zu dem mosaischen Rechte so nachdrücklich
gegen die Scheidung aus, 9 dasz seine Worte nicht ohne
Wirkung auf die spätere Rechtsbildung in den christlichen
Staten sein konnten, obwohl er auch hier nicht unmittelbar
das bestehende Recht änderte noch ein neues schuf, sondern
nur auf den Geist und die moralische Gesinnung wirkte. Die
katholische Kirche aber bildete nachher ein strenges System
des Eherechts aus und gelangte, ungeachtet Christus selbst
die Scheidung aus dem Grunde des Ehebruchs ausgenommen
und anerkannt hatte, im Verfolge der Zeit dazu, die volle
Scheidung
überall zu untersagen und nur eine äuszer-
liche
Trennung (die separatio a toro et mensa), aber auch
diese nur aus wichtigen und seltenen Gründen zu gestatten.
Sie setzte ihre Ansicht in den christlichen Staten des Mittel-
alters in der Weise durch, dasz sie die Frage der ehelichen
Trennung und Scheidung der Einwirkung des States ganz
zu entziehen und ausschlieszlich vor die kirchliche Ge-
richtsbarkeit
zu bringen wuszte.

In den letztern Jahrhunderten hat indessen der Stat
auch diese Seite der Rechtsverhältnisse mit Recht wieder
seiner Gesetzgebung und seiner Rechtspflege unterworfen,
und die protestantische Kirche erklärte von ihrem kirchlichen
Standpunkte aus die Ehescheidung wegen Ehebruchs, öfter
auch aus Gründen, welche diesem an Bedeutung gleich kom-
men, als zulässig.

Endlich hat die Gesetzgebung, theils von modernen natur-
rechtlichen Ideen geleitet, theils im Interesse der individuel-
len Freiheit, manche ältere Scheidungsgründe erweitert und
die Scheidung erleichtert.

Regelmäszig geblieben aber und allgemein anerkannt

9 Matth. 5, 32. 19, 8. Marc. 10, 11 und 12. Luc.
16, 18.
Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat
etc.

Das Christenthum hat in dieser Frage ein neues und
vollkommneres Recht eingeleitet. Christus selbst sprach sich
im Gegensatze zu dem mosaischen Rechte so nachdrücklich
gegen die Scheidung aus, 9 dasz seine Worte nicht ohne
Wirkung auf die spätere Rechtsbildung in den christlichen
Staten sein konnten, obwohl er auch hier nicht unmittelbar
das bestehende Recht änderte noch ein neues schuf, sondern
nur auf den Geist und die moralische Gesinnung wirkte. Die
katholische Kirche aber bildete nachher ein strenges System
des Eherechts aus und gelangte, ungeachtet Christus selbst
die Scheidung aus dem Grunde des Ehebruchs ausgenommen
und anerkannt hatte, im Verfolge der Zeit dazu, die volle
Scheidung
überall zu untersagen und nur eine äuszer-
liche
Trennung (die separatio a toro et mensa), aber auch
diese nur aus wichtigen und seltenen Gründen zu gestatten.
Sie setzte ihre Ansicht in den christlichen Staten des Mittel-
alters in der Weise durch, dasz sie die Frage der ehelichen
Trennung und Scheidung der Einwirkung des States ganz
zu entziehen und ausschlieszlich vor die kirchliche Ge-
richtsbarkeit
zu bringen wuszte.

In den letztern Jahrhunderten hat indessen der Stat
auch diese Seite der Rechtsverhältnisse mit Recht wieder
seiner Gesetzgebung und seiner Rechtspflege unterworfen,
und die protestantische Kirche erklärte von ihrem kirchlichen
Standpunkte aus die Ehescheidung wegen Ehebruchs, öfter
auch aus Gründen, welche diesem an Bedeutung gleich kom-
men, als zulässig.

Endlich hat die Gesetzgebung, theils von modernen natur-
rechtlichen Ideen geleitet, theils im Interesse der individuel-
len Freiheit, manche ältere Scheidungsgründe erweitert und
die Scheidung erleichtert.

Regelmäszig geblieben aber und allgemein anerkannt

9 Matth. 5, 32. 19, 8. Marc. 10, 11 und 12. Luc.
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[227/0245] Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc. Das Christenthum hat in dieser Frage ein neues und vollkommneres Recht eingeleitet. Christus selbst sprach sich im Gegensatze zu dem mosaischen Rechte so nachdrücklich gegen die Scheidung aus, 9 dasz seine Worte nicht ohne Wirkung auf die spätere Rechtsbildung in den christlichen Staten sein konnten, obwohl er auch hier nicht unmittelbar das bestehende Recht änderte noch ein neues schuf, sondern nur auf den Geist und die moralische Gesinnung wirkte. Die katholische Kirche aber bildete nachher ein strenges System des Eherechts aus und gelangte, ungeachtet Christus selbst die Scheidung aus dem Grunde des Ehebruchs ausgenommen und anerkannt hatte, im Verfolge der Zeit dazu, die volle Scheidung überall zu untersagen und nur eine äuszer- liche Trennung (die separatio a toro et mensa), aber auch diese nur aus wichtigen und seltenen Gründen zu gestatten. Sie setzte ihre Ansicht in den christlichen Staten des Mittel- alters in der Weise durch, dasz sie die Frage der ehelichen Trennung und Scheidung der Einwirkung des States ganz zu entziehen und ausschlieszlich vor die kirchliche Ge- richtsbarkeit zu bringen wuszte. In den letztern Jahrhunderten hat indessen der Stat auch diese Seite der Rechtsverhältnisse mit Recht wieder seiner Gesetzgebung und seiner Rechtspflege unterworfen, und die protestantische Kirche erklärte von ihrem kirchlichen Standpunkte aus die Ehescheidung wegen Ehebruchs, öfter auch aus Gründen, welche diesem an Bedeutung gleich kom- men, als zulässig. Endlich hat die Gesetzgebung, theils von modernen natur- rechtlichen Ideen geleitet, theils im Interesse der individuel- len Freiheit, manche ältere Scheidungsgründe erweitert und die Scheidung erleichtert. Regelmäszig geblieben aber und allgemein anerkannt 9 Matth. 5, 32. 19, 8. Marc. 10, 11 und 12. Luc. 16, 18.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/245>, abgerufen am 20.04.2024.