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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
andern werden die übrigen Söhne auszer dem Erbsohn als
Knechte des Hofes betrachtet oder in die Fremde geschickt
und vor weiterer Heirath abgemahnt.

Die Mittel des States, die Ehen und die Kinderzeugung
zu befördern, sind freilich beschränkt, und selbst in der Be-
schränkung werden sie, wie solches auch den Gesetzen Au-
gusts widerfahren ist, dem Volke so wenig munden, als eine
bittere Arznei dem kranken Körper. Ein directer Zwang zur
Ehe ist nicht zulässig, weil die Ehe ihrem Wesen nach die
eheliche Gesinnung und den freien Willen der Individuen
voraussetzt. Selbst in dem Falle, wo die Statsinteressen die
Ehe des Statshauptes dringend wünschbar machen, ist doch
eine Nöthigung desselben zur Eingehung einer Ehe ein so
tiefer Eingriff in die menschliche Freiheit, dasz vor diesen
natürlichen Schranken des individuellen Rechtes auch der
Wille des States zurücktreten musz. Die jungfräuliche Köni-
gin von England hat diese persönliche Freiheit auch des
Monarchen, dessen Leben mehr als ein anderes mit der
Wohlfahrt des States verwachsen ist, siegreich gegen die an-
dringenden Statsrücksichten behauptet.

Der Stat kann somit nur mittelbar den Zweck fördern,
indem er mit der Ehe äuszere Vortheile verbindet, und die
Ehe- und Kinderlosigkeit mit äuszeren Nachtheilen, nicht aber
wie ein Vergehen mit eigentlicher Strafe bedroht. Diesen
Weg hat denn auch die römische Gesetzgebung eingeschlagen.

5. Häufiger finden sich in den neuern Staten umgekehrt
gesetzliche Beschränkungen der Ehe aus Gründen der
öffentlichen Wohlfahrt. Dieselben setzen ebenfalls krankhafte
Zustände voraus, insbesondere das sociale Uebel eigenthums-
oder erwerbloser Classen der Bevölkerung. Da können es
unter Umständen die Interessen der Gemeinschaft nöthig
machen, dasz von denen, welche durch die Ehe neue Fami-
lien begründen wollen, Garantien dafür verlangt werden, dasz
sie im Stande seien, ohne Belästigung der Gemeinden oder

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
andern werden die übrigen Söhne auszer dem Erbsohn als
Knechte des Hofes betrachtet oder in die Fremde geschickt
und vor weiterer Heirath abgemahnt.

Die Mittel des States, die Ehen und die Kinderzeugung
zu befördern, sind freilich beschränkt, und selbst in der Be-
schränkung werden sie, wie solches auch den Gesetzen Au-
gusts widerfahren ist, dem Volke so wenig munden, als eine
bittere Arznei dem kranken Körper. Ein directer Zwang zur
Ehe ist nicht zulässig, weil die Ehe ihrem Wesen nach die
eheliche Gesinnung und den freien Willen der Individuen
voraussetzt. Selbst in dem Falle, wo die Statsinteressen die
Ehe des Statshauptes dringend wünschbar machen, ist doch
eine Nöthigung desselben zur Eingehung einer Ehe ein so
tiefer Eingriff in die menschliche Freiheit, dasz vor diesen
natürlichen Schranken des individuellen Rechtes auch der
Wille des States zurücktreten musz. Die jungfräuliche Köni-
gin von England hat diese persönliche Freiheit auch des
Monarchen, dessen Leben mehr als ein anderes mit der
Wohlfahrt des States verwachsen ist, siegreich gegen die an-
dringenden Statsrücksichten behauptet.

Der Stat kann somit nur mittelbar den Zweck fördern,
indem er mit der Ehe äuszere Vortheile verbindet, und die
Ehe- und Kinderlosigkeit mit äuszeren Nachtheilen, nicht aber
wie ein Vergehen mit eigentlicher Strafe bedroht. Diesen
Weg hat denn auch die römische Gesetzgebung eingeschlagen.

5. Häufiger finden sich in den neuern Staten umgekehrt
gesetzliche Beschränkungen der Ehe aus Gründen der
öffentlichen Wohlfahrt. Dieselben setzen ebenfalls krankhafte
Zustände voraus, insbesondere das sociale Uebel eigenthums-
oder erwerbloser Classen der Bevölkerung. Da können es
unter Umständen die Interessen der Gemeinschaft nöthig
machen, dasz von denen, welche durch die Ehe neue Fami-
lien begründen wollen, Garantien dafür verlangt werden, dasz
sie im Stande seien, ohne Belästigung der Gemeinden oder

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[224/0242] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. andern werden die übrigen Söhne auszer dem Erbsohn als Knechte des Hofes betrachtet oder in die Fremde geschickt und vor weiterer Heirath abgemahnt. Die Mittel des States, die Ehen und die Kinderzeugung zu befördern, sind freilich beschränkt, und selbst in der Be- schränkung werden sie, wie solches auch den Gesetzen Au- gusts widerfahren ist, dem Volke so wenig munden, als eine bittere Arznei dem kranken Körper. Ein directer Zwang zur Ehe ist nicht zulässig, weil die Ehe ihrem Wesen nach die eheliche Gesinnung und den freien Willen der Individuen voraussetzt. Selbst in dem Falle, wo die Statsinteressen die Ehe des Statshauptes dringend wünschbar machen, ist doch eine Nöthigung desselben zur Eingehung einer Ehe ein so tiefer Eingriff in die menschliche Freiheit, dasz vor diesen natürlichen Schranken des individuellen Rechtes auch der Wille des States zurücktreten musz. Die jungfräuliche Köni- gin von England hat diese persönliche Freiheit auch des Monarchen, dessen Leben mehr als ein anderes mit der Wohlfahrt des States verwachsen ist, siegreich gegen die an- dringenden Statsrücksichten behauptet. Der Stat kann somit nur mittelbar den Zweck fördern, indem er mit der Ehe äuszere Vortheile verbindet, und die Ehe- und Kinderlosigkeit mit äuszeren Nachtheilen, nicht aber wie ein Vergehen mit eigentlicher Strafe bedroht. Diesen Weg hat denn auch die römische Gesetzgebung eingeschlagen. 5. Häufiger finden sich in den neuern Staten umgekehrt gesetzliche Beschränkungen der Ehe aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt. Dieselben setzen ebenfalls krankhafte Zustände voraus, insbesondere das sociale Uebel eigenthums- oder erwerbloser Classen der Bevölkerung. Da können es unter Umständen die Interessen der Gemeinschaft nöthig machen, dasz von denen, welche durch die Ehe neue Fami- lien begründen wollen, Garantien dafür verlangt werden, dasz sie im Stande seien, ohne Belästigung der Gemeinden oder

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/242>, abgerufen am 19.04.2024.