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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat
etc.
Ehe nothwendige bürgerliche Eheschlieszung vor dem
statlichen Standesbeamten; 2) die der freien Sitte überlassene
nachfolgende kirchliche Trauung durch den Geistlichen,
welcher der geschlossenen Ehe die religiöse Weihe und den
Segen der Kirche hinzufügt. Die erste ist nothwendig, die
zweite freiwillig.

4. Eine Beförderung der Ehen und der Kinderzeugung
von Stats wegen ist in groszem Maszstab durch den Kaiser
Augustus versucht worden. Das Bedürfnisz zu derartigen
Gesetzen setzt indessen jeder Zeit kranke Zustände einer
Nation voraus, in denen der natürliche Trieb der Individuen,
sich zu verbinden, entweder ausschweift oder gehemmt ist.
Dieses Uebel ist besonders dem Leben in groszen Städten
eigen. Die zahlreicheren Gelegenheiten, geschlechtliche Be-
dürfnisse auch auszer der Ehe zu befriedigen, befördern
den Hang zu einem ungebundenen und liederlichen Leben,
und die erhöhte Schwierigkeit, die gesteigerten Ansprüche
einer städtischen Familie auf Lebensgenusz zu erfüllen, ist
ein bedeutendes Hindernisz der Heirathen gerade unter den
höheren Classen der Gesellschaft. In Rom kam die über-
mäszige Testirfreiheit der römischen Bürger als ein Motiv
der Ehelosigkeit hinzu, indem unverheirathete Reiche sicher
waren, in ihren alten Tagen von erbsüchtigen Verwandten
und Freunden mit dienstgefälliger Zuvorkommenheit gepflegt
und geschmeichelt zu werden. Augustus konnte mit Recht
sagen: "Die Stadt besteht nicht aus Häusern, Säulenhallen
und leeren Märkten, sondern die Menschen bilden die Stadt.
Würde die Ehelosigkeit unter den Bürgern Roms um sich
greifen, so würde am Ende Rom den Griechen oder gar den
Barbaren anheimfallen."

Aber auch auf dem Lande kommen ähnliche Beschrän-
kungen vor im Interesse der Erhaltung des bäuerlichen Grund-
besitzes und der Verhinderung von Gutstheilungen. In man-
chen Gegenden ist so das Zweikindersystem in Uebung, in

Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat
etc.
Ehe nothwendige bürgerliche Eheschlieszung vor dem
statlichen Standesbeamten; 2) die der freien Sitte überlassene
nachfolgende kirchliche Trauung durch den Geistlichen,
welcher der geschlossenen Ehe die religiöse Weihe und den
Segen der Kirche hinzufügt. Die erste ist nothwendig, die
zweite freiwillig.

4. Eine Beförderung der Ehen und der Kinderzeugung
von Stats wegen ist in groszem Maszstab durch den Kaiser
Augustus versucht worden. Das Bedürfnisz zu derartigen
Gesetzen setzt indessen jeder Zeit kranke Zustände einer
Nation voraus, in denen der natürliche Trieb der Individuen,
sich zu verbinden, entweder ausschweift oder gehemmt ist.
Dieses Uebel ist besonders dem Leben in groszen Städten
eigen. Die zahlreicheren Gelegenheiten, geschlechtliche Be-
dürfnisse auch auszer der Ehe zu befriedigen, befördern
den Hang zu einem ungebundenen und liederlichen Leben,
und die erhöhte Schwierigkeit, die gesteigerten Ansprüche
einer städtischen Familie auf Lebensgenusz zu erfüllen, ist
ein bedeutendes Hindernisz der Heirathen gerade unter den
höheren Classen der Gesellschaft. In Rom kam die über-
mäszige Testirfreiheit der römischen Bürger als ein Motiv
der Ehelosigkeit hinzu, indem unverheirathete Reiche sicher
waren, in ihren alten Tagen von erbsüchtigen Verwandten
und Freunden mit dienstgefälliger Zuvorkommenheit gepflegt
und geschmeichelt zu werden. Augustus konnte mit Recht
sagen: „Die Stadt besteht nicht aus Häusern, Säulenhallen
und leeren Märkten, sondern die Menschen bilden die Stadt.
Würde die Ehelosigkeit unter den Bürgern Roms um sich
greifen, so würde am Ende Rom den Griechen oder gar den
Barbaren anheimfallen.“

Aber auch auf dem Lande kommen ähnliche Beschrän-
kungen vor im Interesse der Erhaltung des bäuerlichen Grund-
besitzes und der Verhinderung von Gutstheilungen. In man-
chen Gegenden ist so das Zweikindersystem in Uebung, in

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[223/0241] Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States zur Familie. 1. Geschlechterstat etc. Ehe nothwendige bürgerliche Eheschlieszung vor dem statlichen Standesbeamten; 2) die der freien Sitte überlassene nachfolgende kirchliche Trauung durch den Geistlichen, welcher der geschlossenen Ehe die religiöse Weihe und den Segen der Kirche hinzufügt. Die erste ist nothwendig, die zweite freiwillig. 4. Eine Beförderung der Ehen und der Kinderzeugung von Stats wegen ist in groszem Maszstab durch den Kaiser Augustus versucht worden. Das Bedürfnisz zu derartigen Gesetzen setzt indessen jeder Zeit kranke Zustände einer Nation voraus, in denen der natürliche Trieb der Individuen, sich zu verbinden, entweder ausschweift oder gehemmt ist. Dieses Uebel ist besonders dem Leben in groszen Städten eigen. Die zahlreicheren Gelegenheiten, geschlechtliche Be- dürfnisse auch auszer der Ehe zu befriedigen, befördern den Hang zu einem ungebundenen und liederlichen Leben, und die erhöhte Schwierigkeit, die gesteigerten Ansprüche einer städtischen Familie auf Lebensgenusz zu erfüllen, ist ein bedeutendes Hindernisz der Heirathen gerade unter den höheren Classen der Gesellschaft. In Rom kam die über- mäszige Testirfreiheit der römischen Bürger als ein Motiv der Ehelosigkeit hinzu, indem unverheirathete Reiche sicher waren, in ihren alten Tagen von erbsüchtigen Verwandten und Freunden mit dienstgefälliger Zuvorkommenheit gepflegt und geschmeichelt zu werden. Augustus konnte mit Recht sagen: „Die Stadt besteht nicht aus Häusern, Säulenhallen und leeren Märkten, sondern die Menschen bilden die Stadt. Würde die Ehelosigkeit unter den Bürgern Roms um sich greifen, so würde am Ende Rom den Griechen oder gar den Barbaren anheimfallen.“ Aber auch auf dem Lande kommen ähnliche Beschrän- kungen vor im Interesse der Erhaltung des bäuerlichen Grund- besitzes und der Verhinderung von Gutstheilungen. In man- chen Gegenden ist so das Zweikindersystem in Uebung, in

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/241>, abgerufen am 20.04.2024.