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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.

Die wahre Kunst des Statsmannes ist also zu bewirken,
dasz so wenig als möglich Abfälle der organisirten Berufs-
stände in das nothwendig unorganisirte atomistische Prole-
tariat versinken und dahin zu arbeiten, dasz aus diesen so
viel Individuen als möglich in die organisirten Stände auf-
steigen und da auch den relativen Besitz des gesicherten
Lebensunterhaltes erwerben. Das so verminderte Proletariat
bedarf dann nicht einer selbständigen Organisation, zu dem
es keine Fähigkeit hat, sondern des Patronates, welches sich
seiner Interessen annimmt und für dasselbe spricht und handelt.

Der vierten Classe gebricht es, was die Statsverfassung
betrifft, durchweg an der Fähigkeit, die eigentlichen Stats-
ämter
zu verwalten. Die obern Classen desselben aber
besitzen regelmäszig die Fähigkeit, Gemeindeämter zu be-
kleiden, und dürfen daher von diesen nicht ausgeschlossen
werden.

An der Volksvertretung gebührt ihr neben der drit-
ten Classe ein Antheil, und der Stat thut wohl, näher dafür
zu sorgen, dasz dieser Antheil, der bei völlig gleicher Be-
handlung leicht von der gebildeten und in freierer Musze
lebenden dritten Classe ihr factisch ganz entzogen wird, ge-
sichert bleibe. Indessen da die Glieder dieser Classe oft
weder Musze haben, noch hinreichende Gewandtheit, in Person
ihre Interessen zu vertreten, wird immerhin die Wählbar-
keit
auch für diesen Antheil nicht ganz auf die Classe be-
schränkt werden dürfen.

Das Stimmrecht endlich gebührt dieser Classe nach
Verhältnisz seiner groszen Bedeutung; unrichtig aber ist es,
alle Individuen desselben, deren gesellschaftliche Bedeutung
und Fähigkeit so sehr verschieden ist, auf gleiche Linie zu
stellen.

Das eigentliche Proletariat insbesondere bedarf in seinem
wirklichen Interesse weit eher der Patrone (Schutzherren,
Mundherren) als der Repräsentanten, die es doch nicht in

Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.

Die wahre Kunst des Statsmannes ist also zu bewirken,
dasz so wenig als möglich Abfälle der organisirten Berufs-
stände in das nothwendig unorganisirte atomistische Prole-
tariat versinken und dahin zu arbeiten, dasz aus diesen so
viel Individuen als möglich in die organisirten Stände auf-
steigen und da auch den relativen Besitz des gesicherten
Lebensunterhaltes erwerben. Das so verminderte Proletariat
bedarf dann nicht einer selbständigen Organisation, zu dem
es keine Fähigkeit hat, sondern des Patronates, welches sich
seiner Interessen annimmt und für dasselbe spricht und handelt.

Der vierten Classe gebricht es, was die Statsverfassung
betrifft, durchweg an der Fähigkeit, die eigentlichen Stats-
ämter
zu verwalten. Die obern Classen desselben aber
besitzen regelmäszig die Fähigkeit, Gemeindeämter zu be-
kleiden, und dürfen daher von diesen nicht ausgeschlossen
werden.

An der Volksvertretung gebührt ihr neben der drit-
ten Classe ein Antheil, und der Stat thut wohl, näher dafür
zu sorgen, dasz dieser Antheil, der bei völlig gleicher Be-
handlung leicht von der gebildeten und in freierer Musze
lebenden dritten Classe ihr factisch ganz entzogen wird, ge-
sichert bleibe. Indessen da die Glieder dieser Classe oft
weder Musze haben, noch hinreichende Gewandtheit, in Person
ihre Interessen zu vertreten, wird immerhin die Wählbar-
keit
auch für diesen Antheil nicht ganz auf die Classe be-
schränkt werden dürfen.

Das Stimmrecht endlich gebührt dieser Classe nach
Verhältnisz seiner groszen Bedeutung; unrichtig aber ist es,
alle Individuen desselben, deren gesellschaftliche Bedeutung
und Fähigkeit so sehr verschieden ist, auf gleiche Linie zu
stellen.

Das eigentliche Proletariat insbesondere bedarf in seinem
wirklichen Interesse weit eher der Patrone (Schutzherren,
Mundherren) als der Repräsentanten, die es doch nicht in

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[215/0233] Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen. Die wahre Kunst des Statsmannes ist also zu bewirken, dasz so wenig als möglich Abfälle der organisirten Berufs- stände in das nothwendig unorganisirte atomistische Prole- tariat versinken und dahin zu arbeiten, dasz aus diesen so viel Individuen als möglich in die organisirten Stände auf- steigen und da auch den relativen Besitz des gesicherten Lebensunterhaltes erwerben. Das so verminderte Proletariat bedarf dann nicht einer selbständigen Organisation, zu dem es keine Fähigkeit hat, sondern des Patronates, welches sich seiner Interessen annimmt und für dasselbe spricht und handelt. Der vierten Classe gebricht es, was die Statsverfassung betrifft, durchweg an der Fähigkeit, die eigentlichen Stats- ämter zu verwalten. Die obern Classen desselben aber besitzen regelmäszig die Fähigkeit, Gemeindeämter zu be- kleiden, und dürfen daher von diesen nicht ausgeschlossen werden. An der Volksvertretung gebührt ihr neben der drit- ten Classe ein Antheil, und der Stat thut wohl, näher dafür zu sorgen, dasz dieser Antheil, der bei völlig gleicher Be- handlung leicht von der gebildeten und in freierer Musze lebenden dritten Classe ihr factisch ganz entzogen wird, ge- sichert bleibe. Indessen da die Glieder dieser Classe oft weder Musze haben, noch hinreichende Gewandtheit, in Person ihre Interessen zu vertreten, wird immerhin die Wählbar- keit auch für diesen Antheil nicht ganz auf die Classe be- schränkt werden dürfen. Das Stimmrecht endlich gebührt dieser Classe nach Verhältnisz seiner groszen Bedeutung; unrichtig aber ist es, alle Individuen desselben, deren gesellschaftliche Bedeutung und Fähigkeit so sehr verschieden ist, auf gleiche Linie zu stellen. Das eigentliche Proletariat insbesondere bedarf in seinem wirklichen Interesse weit eher der Patrone (Schutzherren, Mundherren) als der Repräsentanten, die es doch nicht in

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/233>, abgerufen am 29.03.2024.