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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.
oder hat ganze Berufsclassen, wie insbesondere die Fabrik-
arbeiter, noch nicht geordnet. Zu einer neuen Organisation
ist es noch nirgends gekommen und nur die freiwilligen Ge-
nossenschaften
und neben ihnen die Parteiverbände der
Arbeiter offenbaren die ersten Triebe und Keime zu neuer
Organisation.

Unsere heutige Gesellschaft leidet an dieser Desorgani-
sation. Die Gemeinschaft der Bildung, der Interessen, des
Geistes unter den verschiedenen Berufsclassen wird durch die
Desorganisation zwar nicht völlig aufgehoben, aber in einen
Zustand der Unruhe und der Gährung versetzt, und der
schranken- und ziellose Krieg Aller gegen Alle eröffnet. Ver-
geblich schreitet dann die Polizei ein. Sie vermag das Uebel
nur in einzelnen Ausbrüchen zu hemmen oder zu unterdrücken,
und häufig vermehrt sie es noch, indem sie da, wo Sorge
und Heilung Bedürfnisz ist, statt dieser Miszhandlung und
Plage zum Gefolge hat. Wie kann man sich wundern, wenn
gerade in den untern Schichten des vierten Standes auch die
Saat atheistischer Vorstellungen und communistischer Lehren
einen fruchtbaren Boden gefunden hat, und fast überall in
den groszen Städten und theilweise sogar auf dem Land das
Unkraut üppig aufgewuchert ist, welches die edleren Pflan-
zungen der Vergangenheit zu ersticken droht?

Das Proletariat bildet die unterste Stufe innerhalb der
vierten Classe. Es ist aber weder der vierten Classe gleich zu
stellen, noch ist es überhaupt als Classe oder Stand zu orga-
nisiren. Da ist es umgekehrt die Aufgabe des Statsmannes,
das Proletariat möglichst in den übrigen Ständen oder Classen
unterzubringen, und so sein besonderes Wachsthum zu
hemmen. Das Proletariat besteht zumeist aus den Abfällen
der andern Berufsclassen. Die vermögenslosen und ver-
einzelten
Theile der Bevölkerung, die sich deszhalb auch der
befestigten Ordnung sicher entziehen, heiszen wir das Proletariat.

Es ist eine falsche und für den Stat überaus gefährliche

Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.
oder hat ganze Berufsclassen, wie insbesondere die Fabrik-
arbeiter, noch nicht geordnet. Zu einer neuen Organisation
ist es noch nirgends gekommen und nur die freiwilligen Ge-
nossenschaften
und neben ihnen die Parteiverbände der
Arbeiter offenbaren die ersten Triebe und Keime zu neuer
Organisation.

Unsere heutige Gesellschaft leidet an dieser Desorgani-
sation. Die Gemeinschaft der Bildung, der Interessen, des
Geistes unter den verschiedenen Berufsclassen wird durch die
Desorganisation zwar nicht völlig aufgehoben, aber in einen
Zustand der Unruhe und der Gährung versetzt, und der
schranken- und ziellose Krieg Aller gegen Alle eröffnet. Ver-
geblich schreitet dann die Polizei ein. Sie vermag das Uebel
nur in einzelnen Ausbrüchen zu hemmen oder zu unterdrücken,
und häufig vermehrt sie es noch, indem sie da, wo Sorge
und Heilung Bedürfnisz ist, statt dieser Miszhandlung und
Plage zum Gefolge hat. Wie kann man sich wundern, wenn
gerade in den untern Schichten des vierten Standes auch die
Saat atheistischer Vorstellungen und communistischer Lehren
einen fruchtbaren Boden gefunden hat, und fast überall in
den groszen Städten und theilweise sogar auf dem Land das
Unkraut üppig aufgewuchert ist, welches die edleren Pflan-
zungen der Vergangenheit zu ersticken droht?

Das Proletariat bildet die unterste Stufe innerhalb der
vierten Classe. Es ist aber weder der vierten Classe gleich zu
stellen, noch ist es überhaupt als Classe oder Stand zu orga-
nisiren. Da ist es umgekehrt die Aufgabe des Statsmannes,
das Proletariat möglichst in den übrigen Ständen oder Classen
unterzubringen, und so sein besonderes Wachsthum zu
hemmen. Das Proletariat besteht zumeist aus den Abfällen
der andern Berufsclassen. Die vermögenslosen und ver-
einzelten
Theile der Bevölkerung, die sich deszhalb auch der
befestigten Ordnung sicher entziehen, heiszen wir das Proletariat.

Es ist eine falsche und für den Stat überaus gefährliche

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[213/0231] Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen. oder hat ganze Berufsclassen, wie insbesondere die Fabrik- arbeiter, noch nicht geordnet. Zu einer neuen Organisation ist es noch nirgends gekommen und nur die freiwilligen Ge- nossenschaften und neben ihnen die Parteiverbände der Arbeiter offenbaren die ersten Triebe und Keime zu neuer Organisation. Unsere heutige Gesellschaft leidet an dieser Desorgani- sation. Die Gemeinschaft der Bildung, der Interessen, des Geistes unter den verschiedenen Berufsclassen wird durch die Desorganisation zwar nicht völlig aufgehoben, aber in einen Zustand der Unruhe und der Gährung versetzt, und der schranken- und ziellose Krieg Aller gegen Alle eröffnet. Ver- geblich schreitet dann die Polizei ein. Sie vermag das Uebel nur in einzelnen Ausbrüchen zu hemmen oder zu unterdrücken, und häufig vermehrt sie es noch, indem sie da, wo Sorge und Heilung Bedürfnisz ist, statt dieser Miszhandlung und Plage zum Gefolge hat. Wie kann man sich wundern, wenn gerade in den untern Schichten des vierten Standes auch die Saat atheistischer Vorstellungen und communistischer Lehren einen fruchtbaren Boden gefunden hat, und fast überall in den groszen Städten und theilweise sogar auf dem Land das Unkraut üppig aufgewuchert ist, welches die edleren Pflan- zungen der Vergangenheit zu ersticken droht? Das Proletariat bildet die unterste Stufe innerhalb der vierten Classe. Es ist aber weder der vierten Classe gleich zu stellen, noch ist es überhaupt als Classe oder Stand zu orga- nisiren. Da ist es umgekehrt die Aufgabe des Statsmannes, das Proletariat möglichst in den übrigen Ständen oder Classen unterzubringen, und so sein besonderes Wachsthum zu hemmen. Das Proletariat besteht zumeist aus den Abfällen der andern Berufsclassen. Die vermögenslosen und ver- einzelten Theile der Bevölkerung, die sich deszhalb auch der befestigten Ordnung sicher entziehen, heiszen wir das Proletariat. Es ist eine falsche und für den Stat überaus gefährliche

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/231>, abgerufen am 29.03.2024.