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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.
Sie sind alle leiblicher Arbeit zugewendet. Eine absolute
Scheidung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit ist frei-
lich undenkbar; denn regelmäszig bedarf es auch zu dieser
der Thätigkeit des Kopfes und häufig zu jener der Mitwir-
kung der Hand. Aber der Gegensatz zwischen beiden hat
dennoch einen guten Sinn und ist auch von jeher von den
Völkern wohl begriffen worden. Wo die Thätigkeit des Kopfes,
die Speculation inbegriffen, überwiegt, ist feinere Geistesbil-
dung Erfordernisz, und die Art des Berufes und der Lebens-
weise gehoben. Wo die materielle Arbeit des übrigen Kör-
pers überwiegt, da ist jenes Masz von Geistesbildung entbehrlich,
und das ganze Leben bewegt sich in schlichteren und einfache-
ren Formen. Um deszwillen gehören die Kopfarbeiter regel-
mäszig zu der dritten und die Handarbeiter regelmäszig zu der
vierten Classe.

Gemeinsam dieser vierten Classe ist überdem, sowohl
dasz sie die nothwendige Unterlage aller Staten, wie
überhaupt des gesammten Volkslebens bildet, als dasz sie in
sich selbst nicht die Fähigkeit hat, den Stat zu regieren.
Sie bedarf dazu immer der Führer und der Stellvertreter.
In der Regel ist die dienende und passive Seite des öffent-
lichen Daseins in ihr dargestellt; aber aufgeregt und in der
Leidenschaft erhebt sie sich und durchbricht mit unwider-
stehlicher Kraft die Schranken der äuszern Ordnung und setzt
gewaltsam ihren Willen durch. Sie ist stark genug, auch die
Herrschaft im State zu wechseln, und neue Verfassungen zu
erzwingen. Sie wirft Throne um und gibt neuen Männern
oder Dynastien die Gewalt in die Hand. Aber sie kann nicht
selber regieren, und wo sie es eine Weile lang versucht, hat
der Stat das Ansehen eines Menschen, der auf dem Kopfe
steht und die Beine in die Höhe streckt.

Seitdem es eine menschliche Geschichte gibt, ist diese
Classe oder, wie sie oft genannt wird, der vierte Stand noch
niemals zu einer so groszen Bedeutung für das Statsleben

Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen
Classen.
Sie sind alle leiblicher Arbeit zugewendet. Eine absolute
Scheidung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit ist frei-
lich undenkbar; denn regelmäszig bedarf es auch zu dieser
der Thätigkeit des Kopfes und häufig zu jener der Mitwir-
kung der Hand. Aber der Gegensatz zwischen beiden hat
dennoch einen guten Sinn und ist auch von jeher von den
Völkern wohl begriffen worden. Wo die Thätigkeit des Kopfes,
die Speculation inbegriffen, überwiegt, ist feinere Geistesbil-
dung Erfordernisz, und die Art des Berufes und der Lebens-
weise gehoben. Wo die materielle Arbeit des übrigen Kör-
pers überwiegt, da ist jenes Masz von Geistesbildung entbehrlich,
und das ganze Leben bewegt sich in schlichteren und einfache-
ren Formen. Um deszwillen gehören die Kopfarbeiter regel-
mäszig zu der dritten und die Handarbeiter regelmäszig zu der
vierten Classe.

Gemeinsam dieser vierten Classe ist überdem, sowohl
dasz sie die nothwendige Unterlage aller Staten, wie
überhaupt des gesammten Volkslebens bildet, als dasz sie in
sich selbst nicht die Fähigkeit hat, den Stat zu regieren.
Sie bedarf dazu immer der Führer und der Stellvertreter.
In der Regel ist die dienende und passive Seite des öffent-
lichen Daseins in ihr dargestellt; aber aufgeregt und in der
Leidenschaft erhebt sie sich und durchbricht mit unwider-
stehlicher Kraft die Schranken der äuszern Ordnung und setzt
gewaltsam ihren Willen durch. Sie ist stark genug, auch die
Herrschaft im State zu wechseln, und neue Verfassungen zu
erzwingen. Sie wirft Throne um und gibt neuen Männern
oder Dynastien die Gewalt in die Hand. Aber sie kann nicht
selber regieren, und wo sie es eine Weile lang versucht, hat
der Stat das Ansehen eines Menschen, der auf dem Kopfe
steht und die Beine in die Höhe streckt.

Seitdem es eine menschliche Geschichte gibt, ist diese
Classe oder, wie sie oft genannt wird, der vierte Stand noch
niemals zu einer so groszen Bedeutung für das Statsleben

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[211/0229] Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen. Sie sind alle leiblicher Arbeit zugewendet. Eine absolute Scheidung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit ist frei- lich undenkbar; denn regelmäszig bedarf es auch zu dieser der Thätigkeit des Kopfes und häufig zu jener der Mitwir- kung der Hand. Aber der Gegensatz zwischen beiden hat dennoch einen guten Sinn und ist auch von jeher von den Völkern wohl begriffen worden. Wo die Thätigkeit des Kopfes, die Speculation inbegriffen, überwiegt, ist feinere Geistesbil- dung Erfordernisz, und die Art des Berufes und der Lebens- weise gehoben. Wo die materielle Arbeit des übrigen Kör- pers überwiegt, da ist jenes Masz von Geistesbildung entbehrlich, und das ganze Leben bewegt sich in schlichteren und einfache- ren Formen. Um deszwillen gehören die Kopfarbeiter regel- mäszig zu der dritten und die Handarbeiter regelmäszig zu der vierten Classe. Gemeinsam dieser vierten Classe ist überdem, sowohl dasz sie die nothwendige Unterlage aller Staten, wie überhaupt des gesammten Volkslebens bildet, als dasz sie in sich selbst nicht die Fähigkeit hat, den Stat zu regieren. Sie bedarf dazu immer der Führer und der Stellvertreter. In der Regel ist die dienende und passive Seite des öffent- lichen Daseins in ihr dargestellt; aber aufgeregt und in der Leidenschaft erhebt sie sich und durchbricht mit unwider- stehlicher Kraft die Schranken der äuszern Ordnung und setzt gewaltsam ihren Willen durch. Sie ist stark genug, auch die Herrschaft im State zu wechseln, und neue Verfassungen zu erzwingen. Sie wirft Throne um und gibt neuen Männern oder Dynastien die Gewalt in die Hand. Aber sie kann nicht selber regieren, und wo sie es eine Weile lang versucht, hat der Stat das Ansehen eines Menschen, der auf dem Kopfe steht und die Beine in die Höhe streckt. Seitdem es eine menschliche Geschichte gibt, ist diese Classe oder, wie sie oft genannt wird, der vierte Stand noch niemals zu einer so groszen Bedeutung für das Statsleben

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/229>, abgerufen am 20.04.2024.