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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen.
lung die grosze Majorität besasz, gewaltsam zu Boden ge-
worfen, wurde dann aber selber nach seiner Niederlage von
Sedan von den aufgeregten Massen des dritten und des vier-
ten Standes (4. Sept. 1870) des Thrones verlustig erklärt;
aber bald darauf entrisz in Paris wieder der vierte Stand
dem dritten die Herrschaft und gründete die wilde Commune.

Derselbe Gegensatz hatte sich innerhalb der deutschen
Nation schon zur Zeit des deutschen Bauernkrieges deutlich
gezeigt. Aber es ist ein Glück für Deutschland, dasz er in
der neueren Entwicklung der Nation nicht so schroff und
nicht so feindlich wirkt, wie in der Hauptstadt von Frank-
reich. Unverkennbar wirkt er aber auch hier von der Tiefe
aus und zeigt sowohl in der Landbevölkerung, als in der
städtischen Bevölkerung seine Macht, dort vorzüglich in den
Fragen von religiöser Bedeutung und in den Beziehungen der
ungebildeten Massen zu den kirchlichen Autoritäten, hier
mehr auf dem wirthschaftlichen und socialen Gebiete.

Der Ausdruck dritter Stand paszt nicht mehr zur Be-
zeichnung dieser Classe; wenn gleich sie geschichtlich mit
dem mittelalterlichen dritten Stande zusammenhängt. Sie
bildet überhaupt nicht mehr einen festen, in sich abgeschlos-
senen Stand mit besonderem Recht. Auch sie ist flüssig und
fortwährend treten ihr neue Mitglieder bei und scheiden alte
Mitglieder aus.

Immerhin aber unterscheiden sich in ganz wesentlichen
Beziehungen, die ihre Wirkung äuszern auf die Verfassung
des Stats und mehr noch auf die Politik und die Verwaltung
des Stats, die Classen der höhergebildeten Bürger, oder
wie wir schlechtweg sagen, der Gebildeten sowohl von der
Aristokratie, als von den groszen Volksclassen. Der
Unterschied von der Aristokratie liegt darin, dasz ihre Mit-
glieder keine ausgezeichnete Machtstellung ansprechen noch
behaupten und daher auch keine besonderen Vorzüge, sei es
des Titels oder Ranges, sei es der Repräsentation in Ober-

Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen.
lung die grosze Majorität besasz, gewaltsam zu Boden ge-
worfen, wurde dann aber selber nach seiner Niederlage von
Sedan von den aufgeregten Massen des dritten und des vier-
ten Standes (4. Sept. 1870) des Thrones verlustig erklärt;
aber bald darauf entrisz in Paris wieder der vierte Stand
dem dritten die Herrschaft und gründete die wilde Commune.

Derselbe Gegensatz hatte sich innerhalb der deutschen
Nation schon zur Zeit des deutschen Bauernkrieges deutlich
gezeigt. Aber es ist ein Glück für Deutschland, dasz er in
der neueren Entwicklung der Nation nicht so schroff und
nicht so feindlich wirkt, wie in der Hauptstadt von Frank-
reich. Unverkennbar wirkt er aber auch hier von der Tiefe
aus und zeigt sowohl in der Landbevölkerung, als in der
städtischen Bevölkerung seine Macht, dort vorzüglich in den
Fragen von religiöser Bedeutung und in den Beziehungen der
ungebildeten Massen zu den kirchlichen Autoritäten, hier
mehr auf dem wirthschaftlichen und socialen Gebiete.

Der Ausdruck dritter Stand paszt nicht mehr zur Be-
zeichnung dieser Classe; wenn gleich sie geschichtlich mit
dem mittelalterlichen dritten Stande zusammenhängt. Sie
bildet überhaupt nicht mehr einen festen, in sich abgeschlos-
senen Stand mit besonderem Recht. Auch sie ist flüssig und
fortwährend treten ihr neue Mitglieder bei und scheiden alte
Mitglieder aus.

Immerhin aber unterscheiden sich in ganz wesentlichen
Beziehungen, die ihre Wirkung äuszern auf die Verfassung
des Stats und mehr noch auf die Politik und die Verwaltung
des Stats, die Classen der höhergebildeten Bürger, oder
wie wir schlechtweg sagen, der Gebildeten sowohl von der
Aristokratie, als von den groszen Volksclassen. Der
Unterschied von der Aristokratie liegt darin, dasz ihre Mit-
glieder keine ausgezeichnete Machtstellung ansprechen noch
behaupten und daher auch keine besonderen Vorzüge, sei es
des Titels oder Ranges, sei es der Repräsentation in Ober-

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[207/0225] Achtzehntes Capitel. 5. Die modernen Classen. II. Die einzelnen Classen. lung die grosze Majorität besasz, gewaltsam zu Boden ge- worfen, wurde dann aber selber nach seiner Niederlage von Sedan von den aufgeregten Massen des dritten und des vier- ten Standes (4. Sept. 1870) des Thrones verlustig erklärt; aber bald darauf entrisz in Paris wieder der vierte Stand dem dritten die Herrschaft und gründete die wilde Commune. Derselbe Gegensatz hatte sich innerhalb der deutschen Nation schon zur Zeit des deutschen Bauernkrieges deutlich gezeigt. Aber es ist ein Glück für Deutschland, dasz er in der neueren Entwicklung der Nation nicht so schroff und nicht so feindlich wirkt, wie in der Hauptstadt von Frank- reich. Unverkennbar wirkt er aber auch hier von der Tiefe aus und zeigt sowohl in der Landbevölkerung, als in der städtischen Bevölkerung seine Macht, dort vorzüglich in den Fragen von religiöser Bedeutung und in den Beziehungen der ungebildeten Massen zu den kirchlichen Autoritäten, hier mehr auf dem wirthschaftlichen und socialen Gebiete. Der Ausdruck dritter Stand paszt nicht mehr zur Be- zeichnung dieser Classe; wenn gleich sie geschichtlich mit dem mittelalterlichen dritten Stande zusammenhängt. Sie bildet überhaupt nicht mehr einen festen, in sich abgeschlos- senen Stand mit besonderem Recht. Auch sie ist flüssig und fortwährend treten ihr neue Mitglieder bei und scheiden alte Mitglieder aus. Immerhin aber unterscheiden sich in ganz wesentlichen Beziehungen, die ihre Wirkung äuszern auf die Verfassung des Stats und mehr noch auf die Politik und die Verwaltung des Stats, die Classen der höhergebildeten Bürger, oder wie wir schlechtweg sagen, der Gebildeten sowohl von der Aristokratie, als von den groszen Volksclassen. Der Unterschied von der Aristokratie liegt darin, dasz ihre Mit- glieder keine ausgezeichnete Machtstellung ansprechen noch behaupten und daher auch keine besonderen Vorzüge, sei es des Titels oder Ranges, sei es der Repräsentation in Ober-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/225>, abgerufen am 25.04.2024.