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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
verhältnisz zu dem König, und die Einheit des States
wurde den Baronen nicht hingeopfert.

3. Wenn so der englische Adel auf der einen Seite gerin-
gere Herrschaftsrechte hatte, so waren auf der andern Seite
seine politisch-nationalen Rechte um so bedeutender;
und hierauf vornehmlich beruht die Grösze und die bleibende
Wichtigkeit des englischen Adels.

Diese politisch-nationalen Rechte machten sich auf den
groszen Reichstagen geltend, die man frühe schon mit dem
bescheidenen Namen des Parlaments bezeichnet hat. Das
alte sächsische Witenagemot lebte in neuer veredelter Ge-
stalt als Parlament wieder auf, und in ihm einten nach und
nach die nämlichen Interessen und Schicksale auch die beiden
Stämme. Die einen älteren Versammlungen der groszen Vasallen
mochten wohl meistens nur den Zweck haben, den Glanz und
die Würde der Krone an den heiligen Festen zu Ostern,
Pfingsten und Weihnachten zu verherrlichen. Die andern aber
erhielten allmählich eine grosze politische Bedeutung, und es
wurden, anfangs ohne feste Normen und scharfe Competenz-
ausscheidung, auf ihnen je die wichtigsten Angelegenheiten
des States behandelt und entschieden. Während des XIII. Jahr-
hunderts erhielten dieselben eine regelmäszigere Gestaltung.
Die Magna Charta von 1215, welche dem Könige Johann
ohne Land von dem siegreichen Adel, der für die Behauptung
seiner Rechte die Waffen ergriffen hatte, in dem Friedens-
schlusse abgenöthigt wurde, setzte urkundlich fest, dasz "die
Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, und die Grafen und groszen
Barone persönlich durch königliche Briefe (sigillatim per
litteras nostras), die übrigen unmittelbaren Vasallen des Königs
aber insgesammt durch die königlichen Beamten (in generali
per vicecomites et ballivos nostros) zu dem Parlamente (com-
mune consilium regni) eingeladen" werden sollen, und dasz
nur mit ihrer Zustimmung neue Steuern erhoben werden dürfen.

Aus den ersteren, welche vorzugsweise als geborene Räthe

Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
verhältnisz zu dem König, und die Einheit des States
wurde den Baronen nicht hingeopfert.

3. Wenn so der englische Adel auf der einen Seite gerin-
gere Herrschaftsrechte hatte, so waren auf der andern Seite
seine politisch-nationalen Rechte um so bedeutender;
und hierauf vornehmlich beruht die Grösze und die bleibende
Wichtigkeit des englischen Adels.

Diese politisch-nationalen Rechte machten sich auf den
groszen Reichstagen geltend, die man frühe schon mit dem
bescheidenen Namen des Parlaments bezeichnet hat. Das
alte sächsische Witenagemot lebte in neuer veredelter Ge-
stalt als Parlament wieder auf, und in ihm einten nach und
nach die nämlichen Interessen und Schicksale auch die beiden
Stämme. Die einen älteren Versammlungen der groszen Vasallen
mochten wohl meistens nur den Zweck haben, den Glanz und
die Würde der Krone an den heiligen Festen zu Ostern,
Pfingsten und Weihnachten zu verherrlichen. Die andern aber
erhielten allmählich eine grosze politische Bedeutung, und es
wurden, anfangs ohne feste Normen und scharfe Competenz-
ausscheidung, auf ihnen je die wichtigsten Angelegenheiten
des States behandelt und entschieden. Während des XIII. Jahr-
hunderts erhielten dieselben eine regelmäszigere Gestaltung.
Die Magna Charta von 1215, welche dem Könige Johann
ohne Land von dem siegreichen Adel, der für die Behauptung
seiner Rechte die Waffen ergriffen hatte, in dem Friedens-
schlusse abgenöthigt wurde, setzte urkundlich fest, dasz „die
Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, und die Grafen und groszen
Barone persönlich durch königliche Briefe (sigillatim per
litteras nostras), die übrigen unmittelbaren Vasallen des Königs
aber insgesammt durch die königlichen Beamten (in generali
per vicecomites et ballivos nostros) zu dem Parlamente (com-
mune consilium regni) eingeladen“ werden sollen, und dasz
nur mit ihrer Zustimmung neue Steuern erhoben werden dürfen.

Aus den ersteren, welche vorzugsweise als geborene Räthe

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[157/0175] Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel. verhältnisz zu dem König, und die Einheit des States wurde den Baronen nicht hingeopfert. 3. Wenn so der englische Adel auf der einen Seite gerin- gere Herrschaftsrechte hatte, so waren auf der andern Seite seine politisch-nationalen Rechte um so bedeutender; und hierauf vornehmlich beruht die Grösze und die bleibende Wichtigkeit des englischen Adels. Diese politisch-nationalen Rechte machten sich auf den groszen Reichstagen geltend, die man frühe schon mit dem bescheidenen Namen des Parlaments bezeichnet hat. Das alte sächsische Witenagemot lebte in neuer veredelter Ge- stalt als Parlament wieder auf, und in ihm einten nach und nach die nämlichen Interessen und Schicksale auch die beiden Stämme. Die einen älteren Versammlungen der groszen Vasallen mochten wohl meistens nur den Zweck haben, den Glanz und die Würde der Krone an den heiligen Festen zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten zu verherrlichen. Die andern aber erhielten allmählich eine grosze politische Bedeutung, und es wurden, anfangs ohne feste Normen und scharfe Competenz- ausscheidung, auf ihnen je die wichtigsten Angelegenheiten des States behandelt und entschieden. Während des XIII. Jahr- hunderts erhielten dieselben eine regelmäszigere Gestaltung. Die Magna Charta von 1215, welche dem Könige Johann ohne Land von dem siegreichen Adel, der für die Behauptung seiner Rechte die Waffen ergriffen hatte, in dem Friedens- schlusse abgenöthigt wurde, setzte urkundlich fest, dasz „die Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, und die Grafen und groszen Barone persönlich durch königliche Briefe (sigillatim per litteras nostras), die übrigen unmittelbaren Vasallen des Königs aber insgesammt durch die königlichen Beamten (in generali per vicecomites et ballivos nostros) zu dem Parlamente (com- mune consilium regni) eingeladen“ werden sollen, und dasz nur mit ihrer Zustimmung neue Steuern erhoben werden dürfen. Aus den ersteren, welche vorzugsweise als geborene Räthe

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/175>, abgerufen am 18.04.2024.