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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
mit dem Besitze eines Lehens früher so enge, dasz der Rotu-
rier, welcher ein Lehensgut erkaufte und darauf lebte, um
seines Gutes willen zum franc-homme wurde, und sein Enkel,
der ihm in demselben nachfolgte, in jeder Beziehung zu den
gentils-hommes gehörte. 9 Daneben freilich entstand dann ein
freies Ritterthum ohne Lehensbesitz, das durch Geburt,
Erziehung und Beruf der ritterlichen Ehre theilhaftig wurde.

Auch unter diesem niedern Adel gab es mancherlei Ab-
stufungen, von den vavasseurs oder bas sires aufwärts zu den
Viguiers (vicarii), die besonders im Süden häufig waren, und
öfters eine mittlere Gerichtsbarkeit besaszen, den Chatelains,
von denen einzelne den Baronen nahe kamen, und den Vicom-
tes
, von denen ein Theil zu den Baronen gehörte, ein anderer
Theil aber im Lehensdienste einzelner Grafen eine untergeord-
nete Stellung hatten.

Die Mannichfaltigkeit der verschiedenen Rangstufen und
Rechte ist zwar überaus grosz und im Einzelnen verwirrend.
Aber der Grundcharakter ist überall der des Lehenswesens.

4. In der vierten Periode, von Ludwig dem Heiligen (1226)
bis zur französischen Revolution (1789) sehen wir eine totale
Umgestaltung des Adels sich vollziehen.

In der ersten Zeit war es ein Kampf des Königthums mit
dem Adel um die Herrschaft. Die Könige vertraten in dem-
selben die mit neuer Stärke erwachende Nationaleinheit und
das wieder belebte Statsbewusztsein. In diesem Kampfe kamen
die Juristen, welche die Grundsätze des römischen Rechts
verfochten und neuerdings zur Anwendung brachten, den Königen
zu Hülfe. In dem königlichen Gerichtshofe, dem Parlament,
erhielten ihre Lehren ein mächtiges Organ. Das Volk, vor-
nehmlich die Einwohner der Städte, obwohl nur selten ein-
greifend, unterstützte dieselben mittelbar.

Ein neues königliches Beamtensystem, unabhängig

9 Schäffner a. a. O. II. S. 160.

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
mit dem Besitze eines Lehens früher so enge, dasz der Rotu-
rier, welcher ein Lehensgut erkaufte und darauf lebte, um
seines Gutes willen zum franc-homme wurde, und sein Enkel,
der ihm in demselben nachfolgte, in jeder Beziehung zu den
gentils-hommes gehörte. 9 Daneben freilich entstand dann ein
freies Ritterthum ohne Lehensbesitz, das durch Geburt,
Erziehung und Beruf der ritterlichen Ehre theilhaftig wurde.

Auch unter diesem niedern Adel gab es mancherlei Ab-
stufungen, von den vavasseurs oder bas sires aufwärts zu den
Viguiers (vicarii), die besonders im Süden häufig waren, und
öfters eine mittlere Gerichtsbarkeit besaszen, den Chatelains,
von denen einzelne den Baronen nahe kamen, und den Vicom-
tes
, von denen ein Theil zu den Baronen gehörte, ein anderer
Theil aber im Lehensdienste einzelner Grafen eine untergeord-
nete Stellung hatten.

Die Mannichfaltigkeit der verschiedenen Rangstufen und
Rechte ist zwar überaus grosz und im Einzelnen verwirrend.
Aber der Grundcharakter ist überall der des Lehenswesens.

4. In der vierten Periode, von Ludwig dem Heiligen (1226)
bis zur französischen Revolution (1789) sehen wir eine totale
Umgestaltung des Adels sich vollziehen.

In der ersten Zeit war es ein Kampf des Königthums mit
dem Adel um die Herrschaft. Die Könige vertraten in dem-
selben die mit neuer Stärke erwachende Nationaleinheit und
das wieder belebte Statsbewusztsein. In diesem Kampfe kamen
die Juristen, welche die Grundsätze des römischen Rechts
verfochten und neuerdings zur Anwendung brachten, den Königen
zu Hülfe. In dem königlichen Gerichtshofe, dem Parlament,
erhielten ihre Lehren ein mächtiges Organ. Das Volk, vor-
nehmlich die Einwohner der Städte, obwohl nur selten ein-
greifend, unterstützte dieselben mittelbar.

Ein neues königliches Beamtensystem, unabhängig

9 Schäffner a. a. O. II. S. 160.
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[148/0166] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. mit dem Besitze eines Lehens früher so enge, dasz der Rotu- rier, welcher ein Lehensgut erkaufte und darauf lebte, um seines Gutes willen zum franc-homme wurde, und sein Enkel, der ihm in demselben nachfolgte, in jeder Beziehung zu den gentils-hommes gehörte. 9 Daneben freilich entstand dann ein freies Ritterthum ohne Lehensbesitz, das durch Geburt, Erziehung und Beruf der ritterlichen Ehre theilhaftig wurde. Auch unter diesem niedern Adel gab es mancherlei Ab- stufungen, von den vavasseurs oder bas sires aufwärts zu den Viguiers (vicarii), die besonders im Süden häufig waren, und öfters eine mittlere Gerichtsbarkeit besaszen, den Chatelains, von denen einzelne den Baronen nahe kamen, und den Vicom- tes, von denen ein Theil zu den Baronen gehörte, ein anderer Theil aber im Lehensdienste einzelner Grafen eine untergeord- nete Stellung hatten. Die Mannichfaltigkeit der verschiedenen Rangstufen und Rechte ist zwar überaus grosz und im Einzelnen verwirrend. Aber der Grundcharakter ist überall der des Lehenswesens. 4. In der vierten Periode, von Ludwig dem Heiligen (1226) bis zur französischen Revolution (1789) sehen wir eine totale Umgestaltung des Adels sich vollziehen. In der ersten Zeit war es ein Kampf des Königthums mit dem Adel um die Herrschaft. Die Könige vertraten in dem- selben die mit neuer Stärke erwachende Nationaleinheit und das wieder belebte Statsbewusztsein. In diesem Kampfe kamen die Juristen, welche die Grundsätze des römischen Rechts verfochten und neuerdings zur Anwendung brachten, den Königen zu Hülfe. In dem königlichen Gerichtshofe, dem Parlament, erhielten ihre Lehren ein mächtiges Organ. Das Volk, vor- nehmlich die Einwohner der Städte, obwohl nur selten ein- greifend, unterstützte dieselben mittelbar. Ein neues königliches Beamtensystem, unabhängig 9 Schäffner a. a. O. II. S. 160.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/166>, abgerufen am 18.04.2024.