Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
zu eigenem Rechte, und erkannte nur eine sehr beschränkte
oberlehensherrliche Gewalt des Königs über sich an. Diese
Seigneurs können als der hohe Adel bezeichnet werden.
Zu ihnen gehören die Herzoge, die Grafen, die Vicomtes, die
Barone; die meisten unter ihnen waren Kronvasallen, einige
auch Vasallen der Herzoge und Grafen, nur sehr wenige Al-
lodialherren ihres Gebietes. Die hohe Gerichtsbarkeit gehörte
ihnen zu, sie standen an der Spitze der Militärverfassung, die
nun ganz ihres früheren volksmäszigen Charakters entkleidet
zu Lehen- und Ritterdienst geworden war. Was sie hinwieder
dem Könige zu Kriegsdiensten zu leisten katten, war genau
begrenzt und normirt. Der König durfte nur mit ihrer Zu-
stimmung Gesetze erlassen, nur so weit sie es verstatteten,
Steuern erheben. In derselben Weise erlieszen sie in ihrem
Gebiete Landesordnungen, und verlegten Steuern mit Zustim-
mung und Einwilligung ihrer Vasallen. Wer in ihrer Herrschaft
wohnte, muszte ihnen Treue (fides), die Vasallen überdem
Hulde (homagium) schwören (foy et hommage); er war ihr
Unterthan
. Die politische Statshoheit war so zerklüftet in
eine grosze Anzahl mit privatrechtlichen Elementen versetzter,
nur sehr lose verbundener Erbherrschaften. Der hohe Adel
war nicht mehr ein hervorragender Stand des Volkes, noch
war sein Wesen in der Treue und den Diensten zu erkennen,
die er dem Könige schuldete. Seine Hauptbedeutung war viel-
mehr die, dasz er zu beschränkten gröszeren und kleinen
Lehensfürsten und Landesherrn aufgestiegen war. Er hatte
die Souveränetät erlangt. 5

Dieselben Erscheinungen wiederholten sich in den untern
Stufen des niedern Adels. Dieser war vorzüglich aus zwei
Wurzeln erwachsen, einmal aus dem ritterlichen Berufe, so-
dann aus dem Hofdienste. Anfänglich war es der Beruf, welcher

5 Es ist das der alte Sprachgebrauch. Beaumanoir XXXIV. 41:
"Cascuns barons est souverains en sa baronnie. Voirs est que li rois
est sourrains par desor tous."

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
zu eigenem Rechte, und erkannte nur eine sehr beschränkte
oberlehensherrliche Gewalt des Königs über sich an. Diese
Seigneurs können als der hohe Adel bezeichnet werden.
Zu ihnen gehören die Herzoge, die Grafen, die Vicomtes, die
Barone; die meisten unter ihnen waren Kronvasallen, einige
auch Vasallen der Herzoge und Grafen, nur sehr wenige Al-
lodialherren ihres Gebietes. Die hohe Gerichtsbarkeit gehörte
ihnen zu, sie standen an der Spitze der Militärverfassung, die
nun ganz ihres früheren volksmäszigen Charakters entkleidet
zu Lehen- und Ritterdienst geworden war. Was sie hinwieder
dem Könige zu Kriegsdiensten zu leisten katten, war genau
begrenzt und normirt. Der König durfte nur mit ihrer Zu-
stimmung Gesetze erlassen, nur so weit sie es verstatteten,
Steuern erheben. In derselben Weise erlieszen sie in ihrem
Gebiete Landesordnungen, und verlegten Steuern mit Zustim-
mung und Einwilligung ihrer Vasallen. Wer in ihrer Herrschaft
wohnte, muszte ihnen Treue (fides), die Vasallen überdem
Hulde (homagium) schwören (foy et hommage); er war ihr
Unterthan
. Die politische Statshoheit war so zerklüftet in
eine grosze Anzahl mit privatrechtlichen Elementen versetzter,
nur sehr lose verbundener Erbherrschaften. Der hohe Adel
war nicht mehr ein hervorragender Stand des Volkes, noch
war sein Wesen in der Treue und den Diensten zu erkennen,
die er dem Könige schuldete. Seine Hauptbedeutung war viel-
mehr die, dasz er zu beschränkten gröszeren und kleinen
Lehensfürsten und Landesherrn aufgestiegen war. Er hatte
die Souveränetät erlangt. 5

Dieselben Erscheinungen wiederholten sich in den untern
Stufen des niedern Adels. Dieser war vorzüglich aus zwei
Wurzeln erwachsen, einmal aus dem ritterlichen Berufe, so-
dann aus dem Hofdienste. Anfänglich war es der Beruf, welcher

5 Es ist das der alte Sprachgebrauch. Beaumanoir XXXIV. 41:
„Çascuns barons est souverains en sa baronnie. Voirs est que li rois
est sourrains par desor tous.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0164" n="146"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.</fw><lb/>
zu eigenem Rechte, und erkannte nur eine sehr beschränkte<lb/>
oberlehensherrliche Gewalt des Königs über sich an. Diese<lb/><hi rendition="#g">Seigneurs</hi> können als der <hi rendition="#g">hohe Adel</hi> bezeichnet werden.<lb/>
Zu ihnen gehören die Herzoge, die Grafen, die Vicomtes, die<lb/>
Barone; die meisten unter ihnen waren Kronvasallen, einige<lb/>
auch Vasallen der Herzoge und Grafen, nur sehr wenige Al-<lb/>
lodialherren ihres Gebietes. Die hohe Gerichtsbarkeit gehörte<lb/>
ihnen zu, sie standen an der Spitze der Militärverfassung, die<lb/>
nun ganz ihres früheren volksmäszigen Charakters entkleidet<lb/>
zu Lehen- und Ritterdienst geworden war. Was sie hinwieder<lb/>
dem Könige zu Kriegsdiensten zu leisten katten, war genau<lb/>
begrenzt und normirt. Der König durfte nur mit ihrer Zu-<lb/>
stimmung Gesetze erlassen, nur so weit sie es verstatteten,<lb/>
Steuern erheben. In derselben Weise erlieszen sie in ihrem<lb/>
Gebiete Landesordnungen, und verlegten Steuern mit Zustim-<lb/>
mung und Einwilligung ihrer Vasallen. Wer in ihrer Herrschaft<lb/>
wohnte, muszte ihnen Treue (fides), die Vasallen überdem<lb/>
Hulde (homagium) schwören (foy et hommage); er war <hi rendition="#g">ihr<lb/>
Unterthan</hi>. Die politische Statshoheit war so zerklüftet in<lb/>
eine grosze Anzahl mit privatrechtlichen Elementen versetzter,<lb/>
nur sehr lose verbundener Erbherrschaften. Der hohe Adel<lb/>
war nicht mehr ein hervorragender Stand des Volkes, noch<lb/>
war sein Wesen in der Treue und den Diensten zu erkennen,<lb/>
die er dem Könige schuldete. Seine Hauptbedeutung war viel-<lb/>
mehr die, dasz er zu beschränkten gröszeren und kleinen<lb/>
Lehensfürsten und Landesherrn aufgestiegen war. Er hatte<lb/>
die <hi rendition="#g">Souveränetät</hi> erlangt. <note place="foot" n="5">Es ist das der alte Sprachgebrauch. Beaumanoir XXXIV. 41:<lb/>
&#x201E;Çascuns barons est <hi rendition="#i">souverains</hi> en <hi rendition="#i">sa baronnie</hi>. Voirs est que li <hi rendition="#i">rois</hi><lb/>
est <hi rendition="#i">sourrains par desor tous</hi>.&#x201C;</note></p><lb/>
          <p>Dieselben Erscheinungen wiederholten sich in den untern<lb/>
Stufen des <hi rendition="#g">niedern Adels</hi>. Dieser war vorzüglich aus zwei<lb/>
Wurzeln erwachsen, einmal aus dem ritterlichen Berufe, so-<lb/>
dann aus dem Hofdienste. Anfänglich war es der Beruf, welcher<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0164] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. zu eigenem Rechte, und erkannte nur eine sehr beschränkte oberlehensherrliche Gewalt des Königs über sich an. Diese Seigneurs können als der hohe Adel bezeichnet werden. Zu ihnen gehören die Herzoge, die Grafen, die Vicomtes, die Barone; die meisten unter ihnen waren Kronvasallen, einige auch Vasallen der Herzoge und Grafen, nur sehr wenige Al- lodialherren ihres Gebietes. Die hohe Gerichtsbarkeit gehörte ihnen zu, sie standen an der Spitze der Militärverfassung, die nun ganz ihres früheren volksmäszigen Charakters entkleidet zu Lehen- und Ritterdienst geworden war. Was sie hinwieder dem Könige zu Kriegsdiensten zu leisten katten, war genau begrenzt und normirt. Der König durfte nur mit ihrer Zu- stimmung Gesetze erlassen, nur so weit sie es verstatteten, Steuern erheben. In derselben Weise erlieszen sie in ihrem Gebiete Landesordnungen, und verlegten Steuern mit Zustim- mung und Einwilligung ihrer Vasallen. Wer in ihrer Herrschaft wohnte, muszte ihnen Treue (fides), die Vasallen überdem Hulde (homagium) schwören (foy et hommage); er war ihr Unterthan. Die politische Statshoheit war so zerklüftet in eine grosze Anzahl mit privatrechtlichen Elementen versetzter, nur sehr lose verbundener Erbherrschaften. Der hohe Adel war nicht mehr ein hervorragender Stand des Volkes, noch war sein Wesen in der Treue und den Diensten zu erkennen, die er dem Könige schuldete. Seine Hauptbedeutung war viel- mehr die, dasz er zu beschränkten gröszeren und kleinen Lehensfürsten und Landesherrn aufgestiegen war. Er hatte die Souveränetät erlangt. 5 Dieselben Erscheinungen wiederholten sich in den untern Stufen des niedern Adels. Dieser war vorzüglich aus zwei Wurzeln erwachsen, einmal aus dem ritterlichen Berufe, so- dann aus dem Hofdienste. Anfänglich war es der Beruf, welcher 5 Es ist das der alte Sprachgebrauch. Beaumanoir XXXIV. 41: „Çascuns barons est souverains en sa baronnie. Voirs est que li rois est sourrains par desor tous.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/164
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/164>, abgerufen am 29.03.2024.