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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
verleibt. Die Länder der übrigen geistlichen Fürsten wurden
zur Entschädigung verwendet für weltliche Dynastien und mit
deren Ländern verbunden. Mit dem Untergang des Reichs ver-
loren die geistlichen Herren ihre reichständische Stellung und
die Prälaten konnten nur in einzelnen Ländern eine unsichere
Stellung in den verkommenen Landständen behaupten. Die
bischöfliche Würde wurde nun seit vielen Jahrhunderten zuerst
wieder ein rein-kirchliches Amt, ohne statliche Macht.
Die grundherrliche Gerichtsbarkeit ging rasch ebenso ihrem
Untergang zu, wie vorher die geistliche Landeshoheit.

Aber indem der katholische Klerus so seine weltliche
Hoheit und Macht einbüszte, konnte er nicht etwa nun das
Ideal des Mittelalters realisiren. Das Selbstgefühl des modernen
Stats duldete keine Ueberordnung mehr der Geistlichen über
die Laien, und verlangte nun umgekehrt Gehorsam gegen die
Gesetze, und die verfassungsmäszigen Statsgewalten von Jeder-
mann. Die Zeit der kirchlichen Immunitäten und des kirch-
lichen Sonderrechts war ebenfalls vorüber. Das gleiche Landes-
recht erstreckte sich ohne Unterschied über Geistliche und
Laien. Sie alle wurden derselben Gerichtsbarkeit unterworfen.

Eine ähnliche Entwicklung nahm der Klerus in England
und in Frankreich. In diesen Ländern hatte die Geistlich-
keit niemals eine in dem Grade landesherrliche Stellung er-
worben, wie in Deutschland. Das weltliche Statsgefühl war
auch der Geistlichkeit gegenüber in dem englischen Parlamente
und in dem französischen Königthum stärker vertreten. Aber
eine reichsständische Stellung hatte der Klerus in beiden Län-
dern; in England saszen die Bischöfe mit den weltlichen Lords
zusammen im Oberhaus; in Frankreich bildete der Klerus einen
besondern, den ersten Reichsstand. Dort wirkte die Reforma-
tion, hier die Revolution entscheidend auf die Rechte des
Klerus ein. Die mittelalterlichen Immunitäten verschwanden
vor der gemeinen und gleichen Rechtspflicht. Als die von
Ludwig XVI. berufenen Etats generaux 1789 in Paris zu-

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
verleibt. Die Länder der übrigen geistlichen Fürsten wurden
zur Entschädigung verwendet für weltliche Dynastien und mit
deren Ländern verbunden. Mit dem Untergang des Reichs ver-
loren die geistlichen Herren ihre reichständische Stellung und
die Prälaten konnten nur in einzelnen Ländern eine unsichere
Stellung in den verkommenen Landständen behaupten. Die
bischöfliche Würde wurde nun seit vielen Jahrhunderten zuerst
wieder ein rein-kirchliches Amt, ohne statliche Macht.
Die grundherrliche Gerichtsbarkeit ging rasch ebenso ihrem
Untergang zu, wie vorher die geistliche Landeshoheit.

Aber indem der katholische Klerus so seine weltliche
Hoheit und Macht einbüszte, konnte er nicht etwa nun das
Ideal des Mittelalters realisiren. Das Selbstgefühl des modernen
Stats duldete keine Ueberordnung mehr der Geistlichen über
die Laien, und verlangte nun umgekehrt Gehorsam gegen die
Gesetze, und die verfassungsmäszigen Statsgewalten von Jeder-
mann. Die Zeit der kirchlichen Immunitäten und des kirch-
lichen Sonderrechts war ebenfalls vorüber. Das gleiche Landes-
recht erstreckte sich ohne Unterschied über Geistliche und
Laien. Sie alle wurden derselben Gerichtsbarkeit unterworfen.

Eine ähnliche Entwicklung nahm der Klerus in England
und in Frankreich. In diesen Ländern hatte die Geistlich-
keit niemals eine in dem Grade landesherrliche Stellung er-
worben, wie in Deutschland. Das weltliche Statsgefühl war
auch der Geistlichkeit gegenüber in dem englischen Parlamente
und in dem französischen Königthum stärker vertreten. Aber
eine reichsständische Stellung hatte der Klerus in beiden Län-
dern; in England saszen die Bischöfe mit den weltlichen Lords
zusammen im Oberhaus; in Frankreich bildete der Klerus einen
besondern, den ersten Reichsstand. Dort wirkte die Reforma-
tion, hier die Revolution entscheidend auf die Rechte des
Klerus ein. Die mittelalterlichen Immunitäten verschwanden
vor der gemeinen und gleichen Rechtspflicht. Als die von
Ludwig XVI. berufenen États généraux 1789 in Paris zu-

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[140/0158] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. verleibt. Die Länder der übrigen geistlichen Fürsten wurden zur Entschädigung verwendet für weltliche Dynastien und mit deren Ländern verbunden. Mit dem Untergang des Reichs ver- loren die geistlichen Herren ihre reichständische Stellung und die Prälaten konnten nur in einzelnen Ländern eine unsichere Stellung in den verkommenen Landständen behaupten. Die bischöfliche Würde wurde nun seit vielen Jahrhunderten zuerst wieder ein rein-kirchliches Amt, ohne statliche Macht. Die grundherrliche Gerichtsbarkeit ging rasch ebenso ihrem Untergang zu, wie vorher die geistliche Landeshoheit. Aber indem der katholische Klerus so seine weltliche Hoheit und Macht einbüszte, konnte er nicht etwa nun das Ideal des Mittelalters realisiren. Das Selbstgefühl des modernen Stats duldete keine Ueberordnung mehr der Geistlichen über die Laien, und verlangte nun umgekehrt Gehorsam gegen die Gesetze, und die verfassungsmäszigen Statsgewalten von Jeder- mann. Die Zeit der kirchlichen Immunitäten und des kirch- lichen Sonderrechts war ebenfalls vorüber. Das gleiche Landes- recht erstreckte sich ohne Unterschied über Geistliche und Laien. Sie alle wurden derselben Gerichtsbarkeit unterworfen. Eine ähnliche Entwicklung nahm der Klerus in England und in Frankreich. In diesen Ländern hatte die Geistlich- keit niemals eine in dem Grade landesherrliche Stellung er- worben, wie in Deutschland. Das weltliche Statsgefühl war auch der Geistlichkeit gegenüber in dem englischen Parlamente und in dem französischen Königthum stärker vertreten. Aber eine reichsständische Stellung hatte der Klerus in beiden Län- dern; in England saszen die Bischöfe mit den weltlichen Lords zusammen im Oberhaus; in Frankreich bildete der Klerus einen besondern, den ersten Reichsstand. Dort wirkte die Reforma- tion, hier die Revolution entscheidend auf die Rechte des Klerus ein. Die mittelalterlichen Immunitäten verschwanden vor der gemeinen und gleichen Rechtspflicht. Als die von Ludwig XVI. berufenen États généraux 1789 in Paris zu-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/158>, abgerufen am 23.04.2024.