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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Kasten zu Ständen geworden und haben eine reiche Geschichte
und mannigfaltige Gestaltungen und Umwandlungen erlebt.

Die älteste Form der Stände erinnert noch sehr an die
Kasten. In der ersten Zeit waren die Stände noch regelmäszig
Erbstände, und die Eigenschaften, welche den Ständen zu-
geschrieben wurden, deuten auf eine innere Verwandtschaft mit
dem indischen Kastensysteme. Selbst die mythischen Vorstel-
lungen von der göttlichen Erzeugung der Stände sind ganz
ähnlich. Nach der Edda erzeugte der Gott Rigr auf seinen
Wanderungen zuerst den Thräl, den Stammvater der dienen-
den Bevölkerung, dann in besserem Hause den Freien Karl,
den Stammvater der freien Bauern, zuletzt den Edeln Jarl,
den er die Spiesze werfen und die Lanzen schwingen lehrte
und dem er das heilige Geheimnisz der Runen vertraute. Auch
diese Stände waren in Farbe und Körperbau verschieden, am
glänzendsten weisz, mit hellem Haar und leuchtenden Wangen
die Edeln, von häszlichem Gesicht und knotigen Gelenken die
Knechte.

1. Mit der Kaste der Brahmanen läszt sich der gallische
Stand der Druiden, welchen ebenfalls das Priesterthum, die
Wissenschaft und die Rechtskunde zukommt, vergleichen, 1 ob-
wohl auch sie, mehr aber noch die vorchristlichen Priester der
Germanen -- ihr Name Godi ist ebenso von Gott abgeleitet,
wie die Bezeichnung der Brahmanen von Brahma -- mit dem
nationalen Geschlechtsadel näher verwandt bleiben. Eine gröszere
Aehnlichkeit mit der Brahmanenkaste hat die mittelalterliche
Erhebung eines besondern christlichen Priesterstandes,
des Klerus.

2. Der alte Adel aber, den wir in der frühesten Geschichte

1 Caesar de Bello Gall. VI, 13: "Illi rebus divinis intersunt, sacri-
ficia publica ac privata procurant, religiones interpretantur. Ad hos
magnus adolescentium numerus disciplinae causa concurrit, magnoque ii
sunt apud eos honore. Nam fere de omnibus controversiis publicis pri-
vatisque constituunt."

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Kasten zu Ständen geworden und haben eine reiche Geschichte
und mannigfaltige Gestaltungen und Umwandlungen erlebt.

Die älteste Form der Stände erinnert noch sehr an die
Kasten. In der ersten Zeit waren die Stände noch regelmäszig
Erbstände, und die Eigenschaften, welche den Ständen zu-
geschrieben wurden, deuten auf eine innere Verwandtschaft mit
dem indischen Kastensysteme. Selbst die mythischen Vorstel-
lungen von der göttlichen Erzeugung der Stände sind ganz
ähnlich. Nach der Edda erzeugte der Gott Rigr auf seinen
Wanderungen zuerst den Thräl, den Stammvater der dienen-
den Bevölkerung, dann in besserem Hause den Freien Karl,
den Stammvater der freien Bauern, zuletzt den Edeln Jarl,
den er die Spiesze werfen und die Lanzen schwingen lehrte
und dem er das heilige Geheimnisz der Runen vertraute. Auch
diese Stände waren in Farbe und Körperbau verschieden, am
glänzendsten weisz, mit hellem Haar und leuchtenden Wangen
die Edeln, von häszlichem Gesicht und knotigen Gelenken die
Knechte.

1. Mit der Kaste der Brahmanen läszt sich der gallische
Stand der Druiden, welchen ebenfalls das Priesterthum, die
Wissenschaft und die Rechtskunde zukommt, vergleichen, 1 ob-
wohl auch sie, mehr aber noch die vorchristlichen Priester der
Germanen — ihr Name Godi ist ebenso von Gott abgeleitet,
wie die Bezeichnung der Brahmanen von Brahma — mit dem
nationalen Geschlechtsadel näher verwandt bleiben. Eine gröszere
Aehnlichkeit mit der Brahmanenkaste hat die mittelalterliche
Erhebung eines besondern christlichen Priesterstandes,
des Klerus.

2. Der alte Adel aber, den wir in der frühesten Geschichte

1 Caesar de Bello Gall. VI, 13: „Illi rebus divinis intersunt, sacri-
ficia publica ac privata procurant, religiones interpretantur. Ad hos
magnus adolescentium numerus disciplinae causa concurrit, magnoque ii
sunt apud eos honore. Nam fere de omnibus controversiis publicis pri-
vatisque constituunt.“
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[130/0148] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. Kasten zu Ständen geworden und haben eine reiche Geschichte und mannigfaltige Gestaltungen und Umwandlungen erlebt. Die älteste Form der Stände erinnert noch sehr an die Kasten. In der ersten Zeit waren die Stände noch regelmäszig Erbstände, und die Eigenschaften, welche den Ständen zu- geschrieben wurden, deuten auf eine innere Verwandtschaft mit dem indischen Kastensysteme. Selbst die mythischen Vorstel- lungen von der göttlichen Erzeugung der Stände sind ganz ähnlich. Nach der Edda erzeugte der Gott Rigr auf seinen Wanderungen zuerst den Thräl, den Stammvater der dienen- den Bevölkerung, dann in besserem Hause den Freien Karl, den Stammvater der freien Bauern, zuletzt den Edeln Jarl, den er die Spiesze werfen und die Lanzen schwingen lehrte und dem er das heilige Geheimnisz der Runen vertraute. Auch diese Stände waren in Farbe und Körperbau verschieden, am glänzendsten weisz, mit hellem Haar und leuchtenden Wangen die Edeln, von häszlichem Gesicht und knotigen Gelenken die Knechte. 1. Mit der Kaste der Brahmanen läszt sich der gallische Stand der Druiden, welchen ebenfalls das Priesterthum, die Wissenschaft und die Rechtskunde zukommt, vergleichen, 1 ob- wohl auch sie, mehr aber noch die vorchristlichen Priester der Germanen — ihr Name Godi ist ebenso von Gott abgeleitet, wie die Bezeichnung der Brahmanen von Brahma — mit dem nationalen Geschlechtsadel näher verwandt bleiben. Eine gröszere Aehnlichkeit mit der Brahmanenkaste hat die mittelalterliche Erhebung eines besondern christlichen Priesterstandes, des Klerus. 2. Der alte Adel aber, den wir in der frühesten Geschichte 1 Caesar de Bello Gall. VI, 13: „Illi rebus divinis intersunt, sacri- ficia publica ac privata procurant, religiones interpretantur. Ad hos magnus adolescentium numerus disciplinae causa concurrit, magnoque ii sunt apud eos honore. Nam fere de omnibus controversiis publicis pri- vatisque constituunt.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/148>, abgerufen am 19.04.2024.