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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u.
Volksnatur.
asiatisch-arischen Wesen an. In Europa ist sie niemals hei-
misch geworden. Aber in Amerika hat sie in dem Gegensatze
der weiszen und der farbigen Rassen eine neue Anwendung
gefunden. Die Ständeordnung zeigt sich unter sehr vielen
alten und neuen Völkern, ihre reichste Ausbildung aber hat
sie während des Mittelalters in Europa unter den germanischen
Völkern erhalten. Die Classenordnung endlich setzt einen
rationell eingerichteten Stat voraus, wie in Asien China, und
in Europa Athen oder Rom und manche moderne Staten.

Die Kasten werden betrachtet als ein Werk der Natur,
oder als eine unveränderliche Schöpfung Gottes, die Stände
erscheinen als ein Erzeugnisz der Völkergeschichte und
des Lebensberufs, die Classen endlich sind eine Institution
des Stats. In den Kasten offenbart sich die Autorität des
Glaubens, in den Ständen die Macht des socialen Lebens,
der wirthschaftlichen und Culturverhältnisse, in den Classen
die organisatorische Statspolitik. Die Kasten sind noth-
wendig erblich und unveränderlich, den festen, über
einander gelagerten Schichten des Gesteins vergleichbar. Die
Stände haben ein Wachsthum, wie die Pflanzen, und eine
organische Entwicklung, wie die Nationen und die Staten. Das
Erbrecht wird bei ihnen durch die freie Wahl des Berufs
geändert oder verdrängt. Die älteren Stände sind noch als
Erbstände den Kasten verwandt, die Stände der entwickelteren
Civilisation nähern sich als freie Berufsstände den Classen an.
Die Classen sind je nach den verschiedenen Zwecken des Stats
veränderlich wie künstlerische Zeichnungen.

Die indische Kastenordnung,[...] die wir als Typus
der Kasteneinrichtung überhaupt betrachten können, wird in
dem Gesetzbuche Manu's als eine Schöpfung Brahma's dar-
gestellt. Dieser Glaube, den Plato seinem idealen Stat durch
künstliche Mittel einzupflanzen gewünscht hat, ist bei den In-
diern zu voller Wirksamkeit gelangt.

Die oberste Kaste der Brahmanen, in welcher das

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Volksnatur.
asiatisch-arischen Wesen an. In Europa ist sie niemals hei-
misch geworden. Aber in Amerika hat sie in dem Gegensatze
der weiszen und der farbigen Rassen eine neue Anwendung
gefunden. Die Ständeordnung zeigt sich unter sehr vielen
alten und neuen Völkern, ihre reichste Ausbildung aber hat
sie während des Mittelalters in Europa unter den germanischen
Völkern erhalten. Die Classenordnung endlich setzt einen
rationell eingerichteten Stat voraus, wie in Asien China, und
in Europa Athen oder Rom und manche moderne Staten.

Die Kasten werden betrachtet als ein Werk der Natur,
oder als eine unveränderliche Schöpfung Gottes, die Stände
erscheinen als ein Erzeugnisz der Völkergeschichte und
des Lebensberufs, die Classen endlich sind eine Institution
des Stats. In den Kasten offenbart sich die Autorität des
Glaubens, in den Ständen die Macht des socialen Lebens,
der wirthschaftlichen und Culturverhältnisse, in den Classen
die organisatorische Statspolitik. Die Kasten sind noth-
wendig erblich und unveränderlich, den festen, über
einander gelagerten Schichten des Gesteins vergleichbar. Die
Stände haben ein Wachsthum, wie die Pflanzen, und eine
organische Entwicklung, wie die Nationen und die Staten. Das
Erbrecht wird bei ihnen durch die freie Wahl des Berufs
geändert oder verdrängt. Die älteren Stände sind noch als
Erbstände den Kasten verwandt, die Stände der entwickelteren
Civilisation nähern sich als freie Berufsstände den Classen an.
Die Classen sind je nach den verschiedenen Zwecken des Stats
veränderlich wie künstlerische Zeichnungen.

Die indische Kastenordnung,[…] die wir als Typus
der Kasteneinrichtung überhaupt betrachten können, wird in
dem Gesetzbuche Manu's als eine Schöpfung Brahma's dar-
gestellt. Dieser Glaube, den Plato seinem idealen Stat durch
künstliche Mittel einzupflanzen gewünscht hat, ist bei den In-
diern zu voller Wirksamkeit gelangt.

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[124/0142] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. asiatisch-arischen Wesen an. In Europa ist sie niemals hei- misch geworden. Aber in Amerika hat sie in dem Gegensatze der weiszen und der farbigen Rassen eine neue Anwendung gefunden. Die Ständeordnung zeigt sich unter sehr vielen alten und neuen Völkern, ihre reichste Ausbildung aber hat sie während des Mittelalters in Europa unter den germanischen Völkern erhalten. Die Classenordnung endlich setzt einen rationell eingerichteten Stat voraus, wie in Asien China, und in Europa Athen oder Rom und manche moderne Staten. Die Kasten werden betrachtet als ein Werk der Natur, oder als eine unveränderliche Schöpfung Gottes, die Stände erscheinen als ein Erzeugnisz der Völkergeschichte und des Lebensberufs, die Classen endlich sind eine Institution des Stats. In den Kasten offenbart sich die Autorität des Glaubens, in den Ständen die Macht des socialen Lebens, der wirthschaftlichen und Culturverhältnisse, in den Classen die organisatorische Statspolitik. Die Kasten sind noth- wendig erblich und unveränderlich, den festen, über einander gelagerten Schichten des Gesteins vergleichbar. Die Stände haben ein Wachsthum, wie die Pflanzen, und eine organische Entwicklung, wie die Nationen und die Staten. Das Erbrecht wird bei ihnen durch die freie Wahl des Berufs geändert oder verdrängt. Die älteren Stände sind noch als Erbstände den Kasten verwandt, die Stände der entwickelteren Civilisation nähern sich als freie Berufsstände den Classen an. Die Classen sind je nach den verschiedenen Zwecken des Stats veränderlich wie künstlerische Zeichnungen. Die indische Kastenordnung, die wir als Typus der Kasteneinrichtung überhaupt betrachten können, wird in dem Gesetzbuche Manu's als eine Schöpfung Brahma's dar- gestellt. Dieser Glaube, den Plato seinem idealen Stat durch künstliche Mittel einzupflanzen gewünscht hat, ist bei den In- diern zu voller Wirksamkeit gelangt. Die oberste Kaste der Brahmanen, in welcher das

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/142>, abgerufen am 29.03.2024.