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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
befriedigen, so hat sie zugleich ein natürliches Recht zur
Statenbildung
. Dem höchsten Recht der ganzen Nation
auf ihre Existenz und ihre Entwicklung gegenüber sind
alle Rechte einzelner Glieder der Nation oder ihrer Fürsten
nur von untergeordneter Bedeutung. Die Bestimmung der
Menschheit kann nicht erfüllt werden, wenn nicht die Natio-
nen, aus denen sie besteht, im Stande sind, ihre Lebensauf-
gabe zu vollbringen. Die Nationen müssen, nach Fürst Bis-
marcks Ausdruck, athmen und ihre Glieder bewegen können,
damit sie leben. Darauf beruht das heilige Recht der Natio-
nen, sich zu gestalten und Organe zu bilden, mit denen sich
ihr Gesammtleben bewegen und äuszern kann; ein Recht, das
heiliger ist als alle andern Rechte, das Eine, der Menschheit
selber ausgenommen, das alle übrigen begründet und zusam-
men faszt.

4. Aber ein nationaler Stat kann entstehen und
dauern, wenn gleich nicht die ganze Nation in densel-
ben aufgenommen wird. Die nationale Statenbildung erfor-
dert nur die Erfüllung mit einem so groszen und so star-
ken Theil
der Nation, dasz derselbe die Kraft hat, ihren
Charakter und ihren Geist in dem State ganz und voll zur
Geltung zu bringen. Es ist daher eine übertriebene Forde-
rung des Nationalitätsprincips, dasz der nationale Stat so
weit ausgedehnt werde, als die nationale Sprache reicht. Die
Consequenz würde dahin treiben, die Statsgrenzen ebenso be-
weglich zu machen wie die Sprachgrenzen, was mit der Festig-
keit der Statsperson und mit der allgemeinen Rechtssicher-
heit unverträglich wäre.

Frankreich, Italien und das deutsche Reich sind natio-
nale Staten, wenn gleich einzelne Bestandtheile der franzö-
sischen, der italienischen und der deutschen Nation nicht zu
ihnen gehören.

Wohl aber ist eine Nation, welche Volk geworden oder
im Begriffe ist, Volk zu werden, berechtigt, die zerstreuten

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 8

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
befriedigen, so hat sie zugleich ein natürliches Recht zur
Statenbildung
. Dem höchsten Recht der ganzen Nation
auf ihre Existenz und ihre Entwicklung gegenüber sind
alle Rechte einzelner Glieder der Nation oder ihrer Fürsten
nur von untergeordneter Bedeutung. Die Bestimmung der
Menschheit kann nicht erfüllt werden, wenn nicht die Natio-
nen, aus denen sie besteht, im Stande sind, ihre Lebensauf-
gabe zu vollbringen. Die Nationen müssen, nach Fürst Bis-
marcks Ausdruck, athmen und ihre Glieder bewegen können,
damit sie leben. Darauf beruht das heilige Recht der Natio-
nen, sich zu gestalten und Organe zu bilden, mit denen sich
ihr Gesammtleben bewegen und äuszern kann; ein Recht, das
heiliger ist als alle andern Rechte, das Eine, der Menschheit
selber ausgenommen, das alle übrigen begründet und zusam-
men faszt.

4. Aber ein nationaler Stat kann entstehen und
dauern, wenn gleich nicht die ganze Nation in densel-
ben aufgenommen wird. Die nationale Statenbildung erfor-
dert nur die Erfüllung mit einem so groszen und so star-
ken Theil
der Nation, dasz derselbe die Kraft hat, ihren
Charakter und ihren Geist in dem State ganz und voll zur
Geltung zu bringen. Es ist daher eine übertriebene Forde-
rung des Nationalitätsprincips, dasz der nationale Stat so
weit ausgedehnt werde, als die nationale Sprache reicht. Die
Consequenz würde dahin treiben, die Statsgrenzen ebenso be-
weglich zu machen wie die Sprachgrenzen, was mit der Festig-
keit der Statsperson und mit der allgemeinen Rechtssicher-
heit unverträglich wäre.

Frankreich, Italien und das deutsche Reich sind natio-
nale Staten, wenn gleich einzelne Bestandtheile der franzö-
sischen, der italienischen und der deutschen Nation nicht zu
ihnen gehören.

Wohl aber ist eine Nation, welche Volk geworden oder
im Begriffe ist, Volk zu werden, berechtigt, die zerstreuten

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 8
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[113/0131] Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip. befriedigen, so hat sie zugleich ein natürliches Recht zur Statenbildung. Dem höchsten Recht der ganzen Nation auf ihre Existenz und ihre Entwicklung gegenüber sind alle Rechte einzelner Glieder der Nation oder ihrer Fürsten nur von untergeordneter Bedeutung. Die Bestimmung der Menschheit kann nicht erfüllt werden, wenn nicht die Natio- nen, aus denen sie besteht, im Stande sind, ihre Lebensauf- gabe zu vollbringen. Die Nationen müssen, nach Fürst Bis- marcks Ausdruck, athmen und ihre Glieder bewegen können, damit sie leben. Darauf beruht das heilige Recht der Natio- nen, sich zu gestalten und Organe zu bilden, mit denen sich ihr Gesammtleben bewegen und äuszern kann; ein Recht, das heiliger ist als alle andern Rechte, das Eine, der Menschheit selber ausgenommen, das alle übrigen begründet und zusam- men faszt. 4. Aber ein nationaler Stat kann entstehen und dauern, wenn gleich nicht die ganze Nation in densel- ben aufgenommen wird. Die nationale Statenbildung erfor- dert nur die Erfüllung mit einem so groszen und so star- ken Theil der Nation, dasz derselbe die Kraft hat, ihren Charakter und ihren Geist in dem State ganz und voll zur Geltung zu bringen. Es ist daher eine übertriebene Forde- rung des Nationalitätsprincips, dasz der nationale Stat so weit ausgedehnt werde, als die nationale Sprache reicht. Die Consequenz würde dahin treiben, die Statsgrenzen ebenso be- weglich zu machen wie die Sprachgrenzen, was mit der Festig- keit der Statsperson und mit der allgemeinen Rechtssicher- heit unverträglich wäre. Frankreich, Italien und das deutsche Reich sind natio- nale Staten, wenn gleich einzelne Bestandtheile der franzö- sischen, der italienischen und der deutschen Nation nicht zu ihnen gehören. Wohl aber ist eine Nation, welche Volk geworden oder im Begriffe ist, Volk zu werden, berechtigt, die zerstreuten Bluntschli, allgemeine Statslehre. 8

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/131>, abgerufen am 18.04.2024.