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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
genommen nur die Nationen, in welchen die männlichen
Seeleneigenschaften (wie Verstand und Muth) überwiegen.
Die mehr weiblich gearteten werden schlieszlich immer
durch andere ihnen überlegene Mächte statlich beherrscht
werden.

2. Da das Wesen der Nation vorerst Culturgemeinschaft,
nicht Statseinheit ist, so kann es vorkommen, dasz eine
Nation sich ihrer Culturverwandtschaft bewuszt ist, aber in
ihren politischen Ideen uneinig ist. Ein Theil der
Nation kann monarchisch, ein anderer republikanisch gesinnt
und jeder Theil entschlossen sein, das ihm zusagende Stats-
ideal zu verwirklichen. Dann kann es geschehen, dasz die-
selbe Nation in verschiedenen Statsformen ihre Eigen-
thümlichkeit darstellt und nur in dieser mannigfaltigen Staten-
bildung sich befriedigt fühlt. Dieser Zwiespalt ist zuweilen
eine politische Schwäche einer Nation. Die hellenische Nation
ist um solcher innerer Zerklüftung willen in eine Anzahl
kleiner Städtestaten die Beute erst der Makedonischen Könige,
dann der Römer geworden. Italien und Deutschland haben
sich in Folge ähnlicher Spaltungen der fremden Uebermacht
nur unvollkommen erwehren können und sind politisch ver-
kümmert worden. Der Gegensatz zweier oder mehrerer natio-
naler Staten kann aber auch die Wirkung einer ungewöhnlich
reichen Anlage einer Nation und ein Zeichen ihrer groszen
Lebenskraft sein. Das angelsächsische Brüderpaar der aristo-
kratischen Monarchie von England und der demokratischen
Republik in Nordamerika ist ein Beleg für diese letztere
Möglichkeit. Es ist ebenso ein Beweis für den Reichthum der
deutschen Nation, dasz es auszer dem deutschen Reiche noch
eine deutsche Schweiz und ein deutsches Oesterreich gibt.

3. Eine ihrer selbst bewuszte Nation, welche auch einen
politischen Beruf in sich fühlt, hat das natürliche Bedürfnisz,
in einem State zu wirksamer Offenbarung ihres Wesens zu
gelangen. Hat sie auch die Kraft dazu, diesen Trieb zu

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
genommen nur die Nationen, in welchen die männlichen
Seeleneigenschaften (wie Verstand und Muth) überwiegen.
Die mehr weiblich gearteten werden schlieszlich immer
durch andere ihnen überlegene Mächte statlich beherrscht
werden.

2. Da das Wesen der Nation vorerst Culturgemeinschaft,
nicht Statseinheit ist, so kann es vorkommen, dasz eine
Nation sich ihrer Culturverwandtschaft bewuszt ist, aber in
ihren politischen Ideen uneinig ist. Ein Theil der
Nation kann monarchisch, ein anderer republikanisch gesinnt
und jeder Theil entschlossen sein, das ihm zusagende Stats-
ideal zu verwirklichen. Dann kann es geschehen, dasz die-
selbe Nation in verschiedenen Statsformen ihre Eigen-
thümlichkeit darstellt und nur in dieser mannigfaltigen Staten-
bildung sich befriedigt fühlt. Dieser Zwiespalt ist zuweilen
eine politische Schwäche einer Nation. Die hellenische Nation
ist um solcher innerer Zerklüftung willen in eine Anzahl
kleiner Städtestaten die Beute erst der Makedonischen Könige,
dann der Römer geworden. Italien und Deutschland haben
sich in Folge ähnlicher Spaltungen der fremden Uebermacht
nur unvollkommen erwehren können und sind politisch ver-
kümmert worden. Der Gegensatz zweier oder mehrerer natio-
naler Staten kann aber auch die Wirkung einer ungewöhnlich
reichen Anlage einer Nation und ein Zeichen ihrer groszen
Lebenskraft sein. Das angelsächsische Brüderpaar der aristo-
kratischen Monarchie von England und der demokratischen
Republik in Nordamerika ist ein Beleg für diese letztere
Möglichkeit. Es ist ebenso ein Beweis für den Reichthum der
deutschen Nation, dasz es auszer dem deutschen Reiche noch
eine deutsche Schweiz und ein deutsches Oesterreich gibt.

3. Eine ihrer selbst bewuszte Nation, welche auch einen
politischen Beruf in sich fühlt, hat das natürliche Bedürfnisz,
in einem State zu wirksamer Offenbarung ihres Wesens zu
gelangen. Hat sie auch die Kraft dazu, diesen Trieb zu

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[112/0130] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. genommen nur die Nationen, in welchen die männlichen Seeleneigenschaften (wie Verstand und Muth) überwiegen. Die mehr weiblich gearteten werden schlieszlich immer durch andere ihnen überlegene Mächte statlich beherrscht werden. 2. Da das Wesen der Nation vorerst Culturgemeinschaft, nicht Statseinheit ist, so kann es vorkommen, dasz eine Nation sich ihrer Culturverwandtschaft bewuszt ist, aber in ihren politischen Ideen uneinig ist. Ein Theil der Nation kann monarchisch, ein anderer republikanisch gesinnt und jeder Theil entschlossen sein, das ihm zusagende Stats- ideal zu verwirklichen. Dann kann es geschehen, dasz die- selbe Nation in verschiedenen Statsformen ihre Eigen- thümlichkeit darstellt und nur in dieser mannigfaltigen Staten- bildung sich befriedigt fühlt. Dieser Zwiespalt ist zuweilen eine politische Schwäche einer Nation. Die hellenische Nation ist um solcher innerer Zerklüftung willen in eine Anzahl kleiner Städtestaten die Beute erst der Makedonischen Könige, dann der Römer geworden. Italien und Deutschland haben sich in Folge ähnlicher Spaltungen der fremden Uebermacht nur unvollkommen erwehren können und sind politisch ver- kümmert worden. Der Gegensatz zweier oder mehrerer natio- naler Staten kann aber auch die Wirkung einer ungewöhnlich reichen Anlage einer Nation und ein Zeichen ihrer groszen Lebenskraft sein. Das angelsächsische Brüderpaar der aristo- kratischen Monarchie von England und der demokratischen Republik in Nordamerika ist ein Beleg für diese letztere Möglichkeit. Es ist ebenso ein Beweis für den Reichthum der deutschen Nation, dasz es auszer dem deutschen Reiche noch eine deutsche Schweiz und ein deutsches Oesterreich gibt. 3. Eine ihrer selbst bewuszte Nation, welche auch einen politischen Beruf in sich fühlt, hat das natürliche Bedürfnisz, in einem State zu wirksamer Offenbarung ihres Wesens zu gelangen. Hat sie auch die Kraft dazu, diesen Trieb zu

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/130>, abgerufen am 25.04.2024.