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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
mischt. Dann ist keine Gefahr für die Einheit des Stats.
Eher entsteht die Gefahr für die schwächere Nationalität, dasz
sie von der stärkeren, die sie umschlingt, erdrückt und auf-
gezehrt werde. Die geistig überlegene Nationalität wird
dann herrschend und assimilirt sich nach und nach die ver-
einzelten Theile der fremden Nationalitäten. In dieser Weise
sind die Germanen in den vormaligen römischen Provinzen
mit der Zeit romanisirt worden, obwohl sie die herrschenden
Stämme waren. So werden Iren, Deutsche und Franzosen in
den Vereinigten Staten von Amerika nach ein paar Genera-
tionen von dem angelsächsischen Typus der Nordamerikaner
umgebildet.

Dieser Ueberblick beweist für die Wechselwirkung des
Nationalitäts- und des Statsprincips, aber zugleich gegen die
Annahme, dasz Nation und Volk nothwendig in Eins zusammen
treffen.

Wir können daher dem Nationalitätsprincip nur eine
relative, nicht eine absolute Berechtigung zugestehen, und
gelangen bei näherer Erwägung zu folgenden Sätzen:

I. Nicht jede Nation ist fähig, einen Stat zu erzeugen
und zu behaupten, und nur eine politisch befähigte
Nation
kann berechtigt sein, ein selbständiges Volk zu
werden. Die unfähigen bedürfen der Leitung durch andere
begabtere Völker. Die schwachen sind genöthigt, sich mit
andern zu verbinden, oder sich dem Schutze stärkerer Mächte
unterzuordnen. So haben in ganz Westeuropa die keltischen
Nationen der römischen und der germanischen Statenbildung
als passiver Stoff gedient. Die mancherlei Nationalitäten in
Südosteuropa vermögen nur im Anschlusz an einander stat-
lich zu bestehen. Die Berechtigung der englischen Herrschaft
in Ostindien beruht auf dem Bedürfnisz jener Nationen nach
einer höheren Leitung.

Die volle Geistes- und Charakterkraft, um einen natio-
nalen Stat zu schaffen und zu erhalten, haben strenge

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
mischt. Dann ist keine Gefahr für die Einheit des Stats.
Eher entsteht die Gefahr für die schwächere Nationalität, dasz
sie von der stärkeren, die sie umschlingt, erdrückt und auf-
gezehrt werde. Die geistig überlegene Nationalität wird
dann herrschend und assimilirt sich nach und nach die ver-
einzelten Theile der fremden Nationalitäten. In dieser Weise
sind die Germanen in den vormaligen römischen Provinzen
mit der Zeit romanisirt worden, obwohl sie die herrschenden
Stämme waren. So werden Iren, Deutsche und Franzosen in
den Vereinigten Staten von Amerika nach ein paar Genera-
tionen von dem angelsächsischen Typus der Nordamerikaner
umgebildet.

Dieser Ueberblick beweist für die Wechselwirkung des
Nationalitäts- und des Statsprincips, aber zugleich gegen die
Annahme, dasz Nation und Volk nothwendig in Eins zusammen
treffen.

Wir können daher dem Nationalitätsprincip nur eine
relative, nicht eine absolute Berechtigung zugestehen, und
gelangen bei näherer Erwägung zu folgenden Sätzen:

I. Nicht jede Nation ist fähig, einen Stat zu erzeugen
und zu behaupten, und nur eine politisch befähigte
Nation
kann berechtigt sein, ein selbständiges Volk zu
werden. Die unfähigen bedürfen der Leitung durch andere
begabtere Völker. Die schwachen sind genöthigt, sich mit
andern zu verbinden, oder sich dem Schutze stärkerer Mächte
unterzuordnen. So haben in ganz Westeuropa die keltischen
Nationen der römischen und der germanischen Statenbildung
als passiver Stoff gedient. Die mancherlei Nationalitäten in
Südosteuropa vermögen nur im Anschlusz an einander stat-
lich zu bestehen. Die Berechtigung der englischen Herrschaft
in Ostindien beruht auf dem Bedürfnisz jener Nationen nach
einer höheren Leitung.

Die volle Geistes- und Charakterkraft, um einen natio-
nalen Stat zu schaffen und zu erhalten, haben strenge

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[111/0129] Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip. mischt. Dann ist keine Gefahr für die Einheit des Stats. Eher entsteht die Gefahr für die schwächere Nationalität, dasz sie von der stärkeren, die sie umschlingt, erdrückt und auf- gezehrt werde. Die geistig überlegene Nationalität wird dann herrschend und assimilirt sich nach und nach die ver- einzelten Theile der fremden Nationalitäten. In dieser Weise sind die Germanen in den vormaligen römischen Provinzen mit der Zeit romanisirt worden, obwohl sie die herrschenden Stämme waren. So werden Iren, Deutsche und Franzosen in den Vereinigten Staten von Amerika nach ein paar Genera- tionen von dem angelsächsischen Typus der Nordamerikaner umgebildet. Dieser Ueberblick beweist für die Wechselwirkung des Nationalitäts- und des Statsprincips, aber zugleich gegen die Annahme, dasz Nation und Volk nothwendig in Eins zusammen treffen. Wir können daher dem Nationalitätsprincip nur eine relative, nicht eine absolute Berechtigung zugestehen, und gelangen bei näherer Erwägung zu folgenden Sätzen: I. Nicht jede Nation ist fähig, einen Stat zu erzeugen und zu behaupten, und nur eine politisch befähigte Nation kann berechtigt sein, ein selbständiges Volk zu werden. Die unfähigen bedürfen der Leitung durch andere begabtere Völker. Die schwachen sind genöthigt, sich mit andern zu verbinden, oder sich dem Schutze stärkerer Mächte unterzuordnen. So haben in ganz Westeuropa die keltischen Nationen der römischen und der germanischen Statenbildung als passiver Stoff gedient. Die mancherlei Nationalitäten in Südosteuropa vermögen nur im Anschlusz an einander stat- lich zu bestehen. Die Berechtigung der englischen Herrschaft in Ostindien beruht auf dem Bedürfnisz jener Nationen nach einer höheren Leitung. Die volle Geistes- und Charakterkraft, um einen natio- nalen Stat zu schaffen und zu erhalten, haben strenge

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/129>, abgerufen am 18.04.2024.