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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.

I. Wenn das Statsgebiet kleiner ist als die Nation, so
werden wir zwei entgegen gesetzte Strömungen gewahr:

1) Ist das Statsbewusztsein in den Bürgern sehr
kräftig und lebendig, so zeigt sich das Streben des Stats,
seine Bevölkerung zu einer neuen Nation eigenthümlich
auszubilden. In dieser Weise sind im Alterthum die Athener
und Spartaner kraft ihrer statlichen Erziehung und Absonde-
rung zu relativen Nationen geworden; aber auch im Mittel-
alter die Venetianer und die Genuesen, und später die Hol-
länder und theilweise die Schweizer. Das groszartigste Bei-
spiel aber der Bildung einer neuen Nation durch die Kraft
des politischen Geistes, der freilich von dem Gegensatz der
Lage unterstüzt ward, ist die nationale Scheidung der Nord-
amerikaner von den Engländern.

2) Wenn dagegen die nationalen Triebe in dem engen
Statsgebiet sich unbefriedigt fühlen, dann streben sie umge-
kehrt, die Grenzen des Stats zu überschreiten und sich mit
ihren nationalen Genossen in andern Staten zu einem gröszeren
nationalen State zusammen zu schlieszen. Dieser Zug
bewegte schon früher die französische und sie bestimmt in
unserm Jahrhundert die italienische und die deutsche Staten-
bildung.

II. Wenn das Statsgebiet weiter ist als die Nation, d. h.
wenn es zwei oder mehrere Nationen oder doch Bruchtheile
von solchen umfaszt, dann sind mehrere Fälle zu unterscheiden:

A) Die verschiedenen Nationen oder Theile von Nationen
sind massenhaft neben einander in dem Einen Statsge-
biet gelagert. Dann zeigen sich folgende Strömungen:

1) Die Tendenz des States, gestützt auf die hervor-
ragende Cultur einer Nationalität, allmählich die andern
nationalen Elemente zu assimiliren und dadurch das ganze
Volk zu Einer Nation umzuwandeln. So wurde in dem
altrömischen Kaiserreiche der Occident latinisirt und der
Orient hellenisirt. In ähnlicher Weise sucht heute der

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.

I. Wenn das Statsgebiet kleiner ist als die Nation, so
werden wir zwei entgegen gesetzte Strömungen gewahr:

1) Ist das Statsbewusztsein in den Bürgern sehr
kräftig und lebendig, so zeigt sich das Streben des Stats,
seine Bevölkerung zu einer neuen Nation eigenthümlich
auszubilden. In dieser Weise sind im Alterthum die Athener
und Spartaner kraft ihrer statlichen Erziehung und Absonde-
rung zu relativen Nationen geworden; aber auch im Mittel-
alter die Venetianer und die Genuesen, und später die Hol-
länder und theilweise die Schweizer. Das groszartigste Bei-
spiel aber der Bildung einer neuen Nation durch die Kraft
des politischen Geistes, der freilich von dem Gegensatz der
Lage unterstüzt ward, ist die nationale Scheidung der Nord-
amerikaner von den Engländern.

2) Wenn dagegen die nationalen Triebe in dem engen
Statsgebiet sich unbefriedigt fühlen, dann streben sie umge-
kehrt, die Grenzen des Stats zu überschreiten und sich mit
ihren nationalen Genossen in andern Staten zu einem gröszeren
nationalen State zusammen zu schlieszen. Dieser Zug
bewegte schon früher die französische und sie bestimmt in
unserm Jahrhundert die italienische und die deutsche Staten-
bildung.

II. Wenn das Statsgebiet weiter ist als die Nation, d. h.
wenn es zwei oder mehrere Nationen oder doch Bruchtheile
von solchen umfaszt, dann sind mehrere Fälle zu unterscheiden:

A) Die verschiedenen Nationen oder Theile von Nationen
sind massenhaft neben einander in dem Einen Statsge-
biet gelagert. Dann zeigen sich folgende Strömungen:

1) Die Tendenz des States, gestützt auf die hervor-
ragende Cultur einer Nationalität, allmählich die andern
nationalen Elemente zu assimiliren und dadurch das ganze
Volk zu Einer Nation umzuwandeln. So wurde in dem
altrömischen Kaiserreiche der Occident latinisirt und der
Orient hellenisirt. In ähnlicher Weise sucht heute der

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[108/0126] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. I. Wenn das Statsgebiet kleiner ist als die Nation, so werden wir zwei entgegen gesetzte Strömungen gewahr: 1) Ist das Statsbewusztsein in den Bürgern sehr kräftig und lebendig, so zeigt sich das Streben des Stats, seine Bevölkerung zu einer neuen Nation eigenthümlich auszubilden. In dieser Weise sind im Alterthum die Athener und Spartaner kraft ihrer statlichen Erziehung und Absonde- rung zu relativen Nationen geworden; aber auch im Mittel- alter die Venetianer und die Genuesen, und später die Hol- länder und theilweise die Schweizer. Das groszartigste Bei- spiel aber der Bildung einer neuen Nation durch die Kraft des politischen Geistes, der freilich von dem Gegensatz der Lage unterstüzt ward, ist die nationale Scheidung der Nord- amerikaner von den Engländern. 2) Wenn dagegen die nationalen Triebe in dem engen Statsgebiet sich unbefriedigt fühlen, dann streben sie umge- kehrt, die Grenzen des Stats zu überschreiten und sich mit ihren nationalen Genossen in andern Staten zu einem gröszeren nationalen State zusammen zu schlieszen. Dieser Zug bewegte schon früher die französische und sie bestimmt in unserm Jahrhundert die italienische und die deutsche Staten- bildung. II. Wenn das Statsgebiet weiter ist als die Nation, d. h. wenn es zwei oder mehrere Nationen oder doch Bruchtheile von solchen umfaszt, dann sind mehrere Fälle zu unterscheiden: A) Die verschiedenen Nationen oder Theile von Nationen sind massenhaft neben einander in dem Einen Statsge- biet gelagert. Dann zeigen sich folgende Strömungen: 1) Die Tendenz des States, gestützt auf die hervor- ragende Cultur einer Nationalität, allmählich die andern nationalen Elemente zu assimiliren und dadurch das ganze Volk zu Einer Nation umzuwandeln. So wurde in dem altrömischen Kaiserreiche der Occident latinisirt und der Orient hellenisirt. In ähnlicher Weise sucht heute der

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/126>, abgerufen am 16.04.2024.