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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Capitel. Nationale Rechte.
und im deutschen Reichstag nur deutsch, nicht auch polnisch
oder dänisch oder französisch. Sorgfältiger aber achtet die
Schweiz die verschiedenen Nationalitäten, aus denen sie zu-
sammengesetzt ist, indem sie die deutsche mit der französi-
schen Statssprache verbindet, und nach Bedürfnisz auch die
italienische respectirt.

Ebenso wenig ist der Stat gehindert, dafür zu sorgen,
dasz in den Schulen die höhere Cultursprache gepflegt und die
Kinder einer noch ungebildeten Nation an der Errungenschaft
und Erbschaft einer veredelten Litteratur einen Antheil erhal-
ten. Dagegen wird es von einer civilisirten Nation als ein
bitteres Unrecht empfunden, wenn ihre Sprache aus der
Schule und der Kirche zu Gunsten einer fremden Sprache
verdrängt wird.

2. Die Nation hat ferner ein Recht, ihre nationale
Sitte zu üben
, so weit dieselbe nicht dem höhern mensch-
lichen Sittengesetze widerstreitet, oder die Rechte des States
verletzt. Die herrschenden Engländer sind berechtigt, nicht
länger zu dulden, dasz die indischen Frauen zur Todtenfeier
ihrer Männer sich ebenfalls dem Tode opfern. Die Untersagung
aber unschädlicher Volksspiele ist eine nicht zu rechtfertigende
Anmaszung des States.

3. Auf dem Gebiete der eigentlichen Rechtsinsti-
tutionen
ist die Berechtigung der bloszen Nation auf stat-
liche Anerkennung und Schutz geringer, weil hier theils die
Einheit und Harmonie des States, theils die Interessen des
statlichen Culturvolkes einen naturgemäszen höhern Einflusz
äuszern. Eine die Gesammtbevölkerung umfassende, und die
einzelnen Volksrechte umbildende oder aufhebende Gesetz-
gebung ist ein Bedürfnisz des entwickelten States. Man darf
es den Römern nicht verargen, dasz sie das römische Recht
überall in ihrem Reiche einzuführen suchten. Rücksichtsloses
Unmasz aber verdient Tadel. Einen der ärgsten Miszgriffe
der Art hat das englische Parlament begangen, als es 1773

Drittes Capitel. Nationale Rechte.
und im deutschen Reichstag nur deutsch, nicht auch polnisch
oder dänisch oder französisch. Sorgfältiger aber achtet die
Schweiz die verschiedenen Nationalitäten, aus denen sie zu-
sammengesetzt ist, indem sie die deutsche mit der französi-
schen Statssprache verbindet, und nach Bedürfnisz auch die
italienische respectirt.

Ebenso wenig ist der Stat gehindert, dafür zu sorgen,
dasz in den Schulen die höhere Cultursprache gepflegt und die
Kinder einer noch ungebildeten Nation an der Errungenschaft
und Erbschaft einer veredelten Litteratur einen Antheil erhal-
ten. Dagegen wird es von einer civilisirten Nation als ein
bitteres Unrecht empfunden, wenn ihre Sprache aus der
Schule und der Kirche zu Gunsten einer fremden Sprache
verdrängt wird.

2. Die Nation hat ferner ein Recht, ihre nationale
Sitte zu üben
, so weit dieselbe nicht dem höhern mensch-
lichen Sittengesetze widerstreitet, oder die Rechte des States
verletzt. Die herrschenden Engländer sind berechtigt, nicht
länger zu dulden, dasz die indischen Frauen zur Todtenfeier
ihrer Männer sich ebenfalls dem Tode opfern. Die Untersagung
aber unschädlicher Volksspiele ist eine nicht zu rechtfertigende
Anmaszung des States.

3. Auf dem Gebiete der eigentlichen Rechtsinsti-
tutionen
ist die Berechtigung der bloszen Nation auf stat-
liche Anerkennung und Schutz geringer, weil hier theils die
Einheit und Harmonie des States, theils die Interessen des
statlichen Culturvolkes einen naturgemäszen höhern Einflusz
äuszern. Eine die Gesammtbevölkerung umfassende, und die
einzelnen Volksrechte umbildende oder aufhebende Gesetz-
gebung ist ein Bedürfnisz des entwickelten States. Man darf
es den Römern nicht verargen, dasz sie das römische Recht
überall in ihrem Reiche einzuführen suchten. Rücksichtsloses
Unmasz aber verdient Tadel. Einen der ärgsten Miszgriffe
der Art hat das englische Parlament begangen, als es 1773

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[101/0119] Drittes Capitel. Nationale Rechte. und im deutschen Reichstag nur deutsch, nicht auch polnisch oder dänisch oder französisch. Sorgfältiger aber achtet die Schweiz die verschiedenen Nationalitäten, aus denen sie zu- sammengesetzt ist, indem sie die deutsche mit der französi- schen Statssprache verbindet, und nach Bedürfnisz auch die italienische respectirt. Ebenso wenig ist der Stat gehindert, dafür zu sorgen, dasz in den Schulen die höhere Cultursprache gepflegt und die Kinder einer noch ungebildeten Nation an der Errungenschaft und Erbschaft einer veredelten Litteratur einen Antheil erhal- ten. Dagegen wird es von einer civilisirten Nation als ein bitteres Unrecht empfunden, wenn ihre Sprache aus der Schule und der Kirche zu Gunsten einer fremden Sprache verdrängt wird. 2. Die Nation hat ferner ein Recht, ihre nationale Sitte zu üben, so weit dieselbe nicht dem höhern mensch- lichen Sittengesetze widerstreitet, oder die Rechte des States verletzt. Die herrschenden Engländer sind berechtigt, nicht länger zu dulden, dasz die indischen Frauen zur Todtenfeier ihrer Männer sich ebenfalls dem Tode opfern. Die Untersagung aber unschädlicher Volksspiele ist eine nicht zu rechtfertigende Anmaszung des States. 3. Auf dem Gebiete der eigentlichen Rechtsinsti- tutionen ist die Berechtigung der bloszen Nation auf stat- liche Anerkennung und Schutz geringer, weil hier theils die Einheit und Harmonie des States, theils die Interessen des statlichen Culturvolkes einen naturgemäszen höhern Einflusz äuszern. Eine die Gesammtbevölkerung umfassende, und die einzelnen Volksrechte umbildende oder aufhebende Gesetz- gebung ist ein Bedürfnisz des entwickelten States. Man darf es den Römern nicht verargen, dasz sie das römische Recht überall in ihrem Reiche einzuführen suchten. Rücksichtsloses Unmasz aber verdient Tadel. Einen der ärgsten Miszgriffe der Art hat das englische Parlament begangen, als es 1773

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/119>, abgerufen am 25.04.2024.