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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.

Aber nur allmählich wird es gelingen, dieses zunächst
blosz sittliche Gebot in die entsprechende Rechtsformel zu
fassen. Die Hauptbedeutung des Nationalitätsprincips
liegt vorerst noch in der Politik, nicht im Statsrecht.

Als nationale Rechtsgrundsätze aber lassen sich folgende
anführen, die daher von den Genossen derselben Nation geltend
gemacht werden dürfen:

1. Das Recht auf die nationale Sprache.

Die Sprache ist das eigenste Gute jeder Nation, in der
Sprache vorzüglich gibt sich die Eigenart derselben kund, sie
ist das stärkste Band, welches die Genossen der Nation zu
einer Culturgemeinschaft verbindet.

Daher darf der Stat nicht der Nation ihre Sprache ver-
bieten, noch die Ausbildung derselben und ihre Litteratur
untersagen. Es ist im Gegentheil Statspflicht, die Cultur der
Sprache frei gewähren zu lassen und so weit die allgemeinen
Bildungsinteressen nicht dadurch verletzt werden, wohlwollend
zu fördern. 1 Die Unterdrückung der einheimischen Sprachen
der Provinzialen durch die Römer war ein furchtbarer Misz-
brauch der Statsgewalt, und das Verbot der wendischen Volks-
sprache in dem Gebiete des deutschen Ordens unter An-
drohung der Todesstrafe war eine widerrechtliche Barbarei.

Aus diesem Princip folgt aber nicht, dasz es in den
Statsangelegenheiten nicht eine bevorzugte Statssprache
geben dürfe mit Ausschlusz aller übrigen Volkssprachen. So
weit es sich nicht um das blosze Nationalleben, sondern um
das Statsleben handelt, da kann das Interesse des gesammten
Statsvolkes die Einheit der Sprache erfordern. So wird im
englischen Parlamente mit Recht nur englisch, nicht auch
irisch noch gälisch gesprochen, in den französischen Central-
behörden nur französisch, nicht auch keltisch oder baskisch,

1 Oesterreich. Statsverfassung v. 1849, §. 5: "Alle Volksstämme
sind gleichberechtigt (?) und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches
Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache."
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.

Aber nur allmählich wird es gelingen, dieses zunächst
blosz sittliche Gebot in die entsprechende Rechtsformel zu
fassen. Die Hauptbedeutung des Nationalitätsprincips
liegt vorerst noch in der Politik, nicht im Statsrecht.

Als nationale Rechtsgrundsätze aber lassen sich folgende
anführen, die daher von den Genossen derselben Nation geltend
gemacht werden dürfen:

1. Das Recht auf die nationale Sprache.

Die Sprache ist das eigenste Gute jeder Nation, in der
Sprache vorzüglich gibt sich die Eigenart derselben kund, sie
ist das stärkste Band, welches die Genossen der Nation zu
einer Culturgemeinschaft verbindet.

Daher darf der Stat nicht der Nation ihre Sprache ver-
bieten, noch die Ausbildung derselben und ihre Litteratur
untersagen. Es ist im Gegentheil Statspflicht, die Cultur der
Sprache frei gewähren zu lassen und so weit die allgemeinen
Bildungsinteressen nicht dadurch verletzt werden, wohlwollend
zu fördern. 1 Die Unterdrückung der einheimischen Sprachen
der Provinzialen durch die Römer war ein furchtbarer Misz-
brauch der Statsgewalt, und das Verbot der wendischen Volks-
sprache in dem Gebiete des deutschen Ordens unter An-
drohung der Todesstrafe war eine widerrechtliche Barbarei.

Aus diesem Princip folgt aber nicht, dasz es in den
Statsangelegenheiten nicht eine bevorzugte Statssprache
geben dürfe mit Ausschlusz aller übrigen Volkssprachen. So
weit es sich nicht um das blosze Nationalleben, sondern um
das Statsleben handelt, da kann das Interesse des gesammten
Statsvolkes die Einheit der Sprache erfordern. So wird im
englischen Parlamente mit Recht nur englisch, nicht auch
irisch noch gälisch gesprochen, in den französischen Central-
behörden nur französisch, nicht auch keltisch oder baskisch,

1 Oesterreich. Statsverfassung v. 1849, §. 5: „Alle Volksstämme
sind gleichberechtigt (?) und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches
Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.“
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[100/0118] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. Aber nur allmählich wird es gelingen, dieses zunächst blosz sittliche Gebot in die entsprechende Rechtsformel zu fassen. Die Hauptbedeutung des Nationalitätsprincips liegt vorerst noch in der Politik, nicht im Statsrecht. Als nationale Rechtsgrundsätze aber lassen sich folgende anführen, die daher von den Genossen derselben Nation geltend gemacht werden dürfen: 1. Das Recht auf die nationale Sprache. Die Sprache ist das eigenste Gute jeder Nation, in der Sprache vorzüglich gibt sich die Eigenart derselben kund, sie ist das stärkste Band, welches die Genossen der Nation zu einer Culturgemeinschaft verbindet. Daher darf der Stat nicht der Nation ihre Sprache ver- bieten, noch die Ausbildung derselben und ihre Litteratur untersagen. Es ist im Gegentheil Statspflicht, die Cultur der Sprache frei gewähren zu lassen und so weit die allgemeinen Bildungsinteressen nicht dadurch verletzt werden, wohlwollend zu fördern. 1 Die Unterdrückung der einheimischen Sprachen der Provinzialen durch die Römer war ein furchtbarer Misz- brauch der Statsgewalt, und das Verbot der wendischen Volks- sprache in dem Gebiete des deutschen Ordens unter An- drohung der Todesstrafe war eine widerrechtliche Barbarei. Aus diesem Princip folgt aber nicht, dasz es in den Statsangelegenheiten nicht eine bevorzugte Statssprache geben dürfe mit Ausschlusz aller übrigen Volkssprachen. So weit es sich nicht um das blosze Nationalleben, sondern um das Statsleben handelt, da kann das Interesse des gesammten Statsvolkes die Einheit der Sprache erfordern. So wird im englischen Parlamente mit Recht nur englisch, nicht auch irisch noch gälisch gesprochen, in den französischen Central- behörden nur französisch, nicht auch keltisch oder baskisch, 1 Oesterreich. Statsverfassung v. 1849, §. 5: „Alle Volksstämme sind gleichberechtigt (?) und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/118>, abgerufen am 29.03.2024.