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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
umbildet. Eine höhere Cultur einer groszen Nation zehrt so
nach und nach die roheren Culturen kleiner Stämme auf und
ersetzt dieselben durch ihre reichere Bildung.

Unter Volk verstehen wir in der Regel die zum State
geeinigte
und im State organisirte Gemeinschaft
aller Statsgenossen. Die Entstehung des Volkes kommt zu-
gleich mit der Schöpfung des Stats zur Wirksamkeit. Das
Gefühl, in höherer Stufe das Bewusztsein politischer Zu-
sammengehörigkeit und Einheit hebt das Volk über die Nation
empor. Es ist zwar denkbar dasz ein Volk, welches sein
Land verläszt, vorläufig noch Volk bleibt, aber es ist doch
nur provisorisch als Volk anzusehen, bis es ihm gelingt, in
einem neuen Lande einen Stat zu bilden. Ebenso kann ein
Volk dem State vorhergehen, wie das jüdische Volk unter
Moses dem jüdischen State; aber doch wieder nur, weil in
ihm der Statstrieb kräftig entwickelt ist und es zur Gründung
eines Stats einheitlich organisirt ist. Insofern ist die Be-
ziehung des Volksbegriffs zum Stat immer nothwendig und
man kann sagen: Kein Volk ohne Stat. Wir werden diese
Entstehung des States in dem vierten Buche besonders be-
trachten.

Wir pflegen aber die blosz passive, beherrschte Masse,
ohne politische Rechte, nicht Volk zu nennen. Insofern läszt
sich nicht sagen: Kein Stat ohne Volk. Die Despotie
weisz nichts von Völkern, sondern nur von Unterthanen.

Wenn das Volk entweder insgesammt oder in dem Kern
der Statsbewohner auf nationaler Grundlage steht, so hat es
natürlich auch seinen Antheil an der nationalen Geistes-,
Charakter-, Sprach- und Sittengemeinschaft. Wenn es dagegen
aus mehreren Nationen oder aus Bruchstücken solcher gemischt
ist, so ist diese Gemeinschaft weniger allgemein in ihm als
in der Nation.

Dagegen zeichnet sich das Volk vor der Nation haupt-
sächlich dadurch aus, dasz in ihm die Rechtsgemein-

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 7

Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
umbildet. Eine höhere Cultur einer groszen Nation zehrt so
nach und nach die roheren Culturen kleiner Stämme auf und
ersetzt dieselben durch ihre reichere Bildung.

Unter Volk verstehen wir in der Regel die zum State
geeinigte
und im State organisirte Gemeinschaft
aller Statsgenossen. Die Entstehung des Volkes kommt zu-
gleich mit der Schöpfung des Stats zur Wirksamkeit. Das
Gefühl, in höherer Stufe das Bewusztsein politischer Zu-
sammengehörigkeit und Einheit hebt das Volk über die Nation
empor. Es ist zwar denkbar dasz ein Volk, welches sein
Land verläszt, vorläufig noch Volk bleibt, aber es ist doch
nur provisorisch als Volk anzusehen, bis es ihm gelingt, in
einem neuen Lande einen Stat zu bilden. Ebenso kann ein
Volk dem State vorhergehen, wie das jüdische Volk unter
Moses dem jüdischen State; aber doch wieder nur, weil in
ihm der Statstrieb kräftig entwickelt ist und es zur Gründung
eines Stats einheitlich organisirt ist. Insofern ist die Be-
ziehung des Volksbegriffs zum Stat immer nothwendig und
man kann sagen: Kein Volk ohne Stat. Wir werden diese
Entstehung des States in dem vierten Buche besonders be-
trachten.

Wir pflegen aber die blosz passive, beherrschte Masse,
ohne politische Rechte, nicht Volk zu nennen. Insofern läszt
sich nicht sagen: Kein Stat ohne Volk. Die Despotie
weisz nichts von Völkern, sondern nur von Unterthanen.

Wenn das Volk entweder insgesammt oder in dem Kern
der Statsbewohner auf nationaler Grundlage steht, so hat es
natürlich auch seinen Antheil an der nationalen Geistes-,
Charakter-, Sprach- und Sittengemeinschaft. Wenn es dagegen
aus mehreren Nationen oder aus Bruchstücken solcher gemischt
ist, so ist diese Gemeinschaft weniger allgemein in ihm als
in der Nation.

Dagegen zeichnet sich das Volk vor der Nation haupt-
sächlich dadurch aus, dasz in ihm die Rechtsgemein-

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 7
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[97/0115] Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk. umbildet. Eine höhere Cultur einer groszen Nation zehrt so nach und nach die roheren Culturen kleiner Stämme auf und ersetzt dieselben durch ihre reichere Bildung. Unter Volk verstehen wir in der Regel die zum State geeinigte und im State organisirte Gemeinschaft aller Statsgenossen. Die Entstehung des Volkes kommt zu- gleich mit der Schöpfung des Stats zur Wirksamkeit. Das Gefühl, in höherer Stufe das Bewusztsein politischer Zu- sammengehörigkeit und Einheit hebt das Volk über die Nation empor. Es ist zwar denkbar dasz ein Volk, welches sein Land verläszt, vorläufig noch Volk bleibt, aber es ist doch nur provisorisch als Volk anzusehen, bis es ihm gelingt, in einem neuen Lande einen Stat zu bilden. Ebenso kann ein Volk dem State vorhergehen, wie das jüdische Volk unter Moses dem jüdischen State; aber doch wieder nur, weil in ihm der Statstrieb kräftig entwickelt ist und es zur Gründung eines Stats einheitlich organisirt ist. Insofern ist die Be- ziehung des Volksbegriffs zum Stat immer nothwendig und man kann sagen: Kein Volk ohne Stat. Wir werden diese Entstehung des States in dem vierten Buche besonders be- trachten. Wir pflegen aber die blosz passive, beherrschte Masse, ohne politische Rechte, nicht Volk zu nennen. Insofern läszt sich nicht sagen: Kein Stat ohne Volk. Die Despotie weisz nichts von Völkern, sondern nur von Unterthanen. Wenn das Volk entweder insgesammt oder in dem Kern der Statsbewohner auf nationaler Grundlage steht, so hat es natürlich auch seinen Antheil an der nationalen Geistes-, Charakter-, Sprach- und Sittengemeinschaft. Wenn es dagegen aus mehreren Nationen oder aus Bruchstücken solcher gemischt ist, so ist diese Gemeinschaft weniger allgemein in ihm als in der Nation. Dagegen zeichnet sich das Volk vor der Nation haupt- sächlich dadurch aus, dasz in ihm die Rechtsgemein- Bluntschli, allgemeine Statslehre. 7

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/115>, abgerufen am 29.03.2024.