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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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gebildet hatte. Allein man darf dieser Erscheinung, so bedeu-
tungsvoll sie auch war, doch auch kein zu großes Gewicht bei-
legen. Denn der Einfluß der Stammesverschiedenheit war
nicht mehr von solchem Belang wie früher; die Zersplitterung
in einzelne Territorien, welche zum Theil ganz zufälligen Um-
ständen ihre Entstehung verdankten, hatte auf die Rechtsbil-
dung noch nicht wesentlich eingewirkt, da eine Landesgesetzge-
bung noch so gut wie gar nicht bestand, und die unmittelbare
Entwicklung des Rechts im Volke auf dem Wege der Ge-
wohnheit und der Autonomie im Ganzen unabhängig von der
Territorialität vor sich ging. Desto nachhaltiger war dagegen
allerdings der Einfluß geworden, welchen die im späteren Mit-
telalter schroff ausgebildete Sonderung der Stände auf das
Rechtswesen ausgeübt hatte, indem nur für die einzelnen Clas-
sen der Bevölkerung gleichartige Institute galten, welche wie-
der in dem statutarischen Recht der einzelnen Corporationen
ihre genauere Bestimmung erhielten. Indessen ist dabei auch
nicht zu übersehen, daß die Grundlage in dem Recht der ver-
schiedenen Stände doch etwas Gemeinsames und Nationales
war, welches bei aller Mannichfaltigkeit im Einzelnen einen
gewissen innern Zusammenhang bewahrte, und das Verständ-
niß des Rechts auch über den nächsten Lebenskreis hinaus, in
dem sich jeder bewegte, ausnehmend befördern mußte. Denn
so schroff, wie in früheren Zeiten die Freiheit und Unfreiheit,
standen sich jetzt doch die Principien, welche das Recht der
einzelnen Stände beherrschten, nicht mehr gegenüber, wenig-
stens nicht in denjenigen, welche eben aus einer Vermischung
jener älteren Volksclassen hervorgegangen waren, also bei der
landsässigen Ritterschaft, den Stadtbürgern und den voigtei-
pflichtigen Landleuten. Und je mehr in der allmäligen Ent-

Erſtes Kapitel.
gebildet hatte. Allein man darf dieſer Erſcheinung, ſo bedeu-
tungsvoll ſie auch war, doch auch kein zu großes Gewicht bei-
legen. Denn der Einfluß der Stammesverſchiedenheit war
nicht mehr von ſolchem Belang wie fruͤher; die Zerſplitterung
in einzelne Territorien, welche zum Theil ganz zufaͤlligen Um-
ſtaͤnden ihre Entſtehung verdankten, hatte auf die Rechtsbil-
dung noch nicht weſentlich eingewirkt, da eine Landesgeſetzge-
bung noch ſo gut wie gar nicht beſtand, und die unmittelbare
Entwicklung des Rechts im Volke auf dem Wege der Ge-
wohnheit und der Autonomie im Ganzen unabhaͤngig von der
Territorialitaͤt vor ſich ging. Deſto nachhaltiger war dagegen
allerdings der Einfluß geworden, welchen die im ſpaͤteren Mit-
telalter ſchroff ausgebildete Sonderung der Staͤnde auf das
Rechtsweſen ausgeuͤbt hatte, indem nur fuͤr die einzelnen Claſ-
ſen der Bevoͤlkerung gleichartige Inſtitute galten, welche wie-
der in dem ſtatutariſchen Recht der einzelnen Corporationen
ihre genauere Beſtimmung erhielten. Indeſſen iſt dabei auch
nicht zu uͤberſehen, daß die Grundlage in dem Recht der ver-
ſchiedenen Staͤnde doch etwas Gemeinſames und Nationales
war, welches bei aller Mannichfaltigkeit im Einzelnen einen
gewiſſen innern Zuſammenhang bewahrte, und das Verſtaͤnd-
niß des Rechts auch uͤber den naͤchſten Lebenskreis hinaus, in
dem ſich jeder bewegte, ausnehmend befoͤrdern mußte. Denn
ſo ſchroff, wie in fruͤheren Zeiten die Freiheit und Unfreiheit,
ſtanden ſich jetzt doch die Principien, welche das Recht der
einzelnen Staͤnde beherrſchten, nicht mehr gegenuͤber, wenig-
ſtens nicht in denjenigen, welche eben aus einer Vermiſchung
jener aͤlteren Volksclaſſen hervorgegangen waren, alſo bei der
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pflichtigen Landleuten. Und je mehr in der allmaͤligen Ent-

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[24/0036] Erſtes Kapitel. gebildet hatte. Allein man darf dieſer Erſcheinung, ſo bedeu- tungsvoll ſie auch war, doch auch kein zu großes Gewicht bei- legen. Denn der Einfluß der Stammesverſchiedenheit war nicht mehr von ſolchem Belang wie fruͤher; die Zerſplitterung in einzelne Territorien, welche zum Theil ganz zufaͤlligen Um- ſtaͤnden ihre Entſtehung verdankten, hatte auf die Rechtsbil- dung noch nicht weſentlich eingewirkt, da eine Landesgeſetzge- bung noch ſo gut wie gar nicht beſtand, und die unmittelbare Entwicklung des Rechts im Volke auf dem Wege der Ge- wohnheit und der Autonomie im Ganzen unabhaͤngig von der Territorialitaͤt vor ſich ging. Deſto nachhaltiger war dagegen allerdings der Einfluß geworden, welchen die im ſpaͤteren Mit- telalter ſchroff ausgebildete Sonderung der Staͤnde auf das Rechtsweſen ausgeuͤbt hatte, indem nur fuͤr die einzelnen Claſ- ſen der Bevoͤlkerung gleichartige Inſtitute galten, welche wie- der in dem ſtatutariſchen Recht der einzelnen Corporationen ihre genauere Beſtimmung erhielten. Indeſſen iſt dabei auch nicht zu uͤberſehen, daß die Grundlage in dem Recht der ver- ſchiedenen Staͤnde doch etwas Gemeinſames und Nationales war, welches bei aller Mannichfaltigkeit im Einzelnen einen gewiſſen innern Zuſammenhang bewahrte, und das Verſtaͤnd- niß des Rechts auch uͤber den naͤchſten Lebenskreis hinaus, in dem ſich jeder bewegte, ausnehmend befoͤrdern mußte. Denn ſo ſchroff, wie in fruͤheren Zeiten die Freiheit und Unfreiheit, ſtanden ſich jetzt doch die Principien, welche das Recht der einzelnen Staͤnde beherrſchten, nicht mehr gegenuͤber, wenig- ſtens nicht in denjenigen, welche eben aus einer Vermiſchung jener aͤlteren Volksclaſſen hervorgegangen waren, alſo bei der landſaͤſſigen Ritterſchaft, den Stadtbuͤrgern und den voigtei- pflichtigen Landleuten. Und je mehr in der allmaͤligen Ent-

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/36>, abgerufen am 16.04.2024.