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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

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§. VIII. Vorsatz und Fahrlässigkeit.
bis 25. die allgemeinen Begriffe und Grundsätze über die culpa in fol-
gender Weise auf:";

"Zuerst werden, übereinstimmend mit der damals im gemeinen
Recht allgemein angenommenen Lehre, drei Grade des Versehens un-
terschieden (§. 18-23.); hierauf folgt eine Vorschrift über die Berück-
sichtigung der Individualität des Handelnden (§§. 24. 25.)."

"Ueber die drei Grade des Versehens finden sich folgende Bestim-
mungen:"

1)""Grobes Versehen heißt dasjenige, welches, bei gewöhnlichen
Fähigkeiten, ohne Anstrengung der Aufmerksamkeit vermieden
werden konnte (§. 20.). Die eigenthümliche Folge dieses Grades besteht
nur darin, daß derselbe, in so fern es auf Schadenersatz ankommt, dem
Vorsatz gleich beurtheilt werden soll"" (§. 19.).

2) ""Ein mäßiges Versehen heißt dasjenige, welches bei einem
gewöhnlichen Grade von Aufmerksamkeit vermieden werden
konnte"" (§. 20.).

"Für diesen Grad wird folgende praktische Regel aufgestellt:"

""Auch ein mäßiges Versehen muß verantwortet wer-
den
"" (§. 21.).

3) ""Geringes Versehen ist dasjenige, welches nur durch eine
ungewöhnliche Anstrengung der Aufmerksamkeit u. s. w. ver-
mieden werden konnte"" (§. 22.).

"Für diesen letzten Grad gilt die Regel, daß derselbe nur aus-
nahmsweise
vertreten werden soll, nämlich nur da, wo es die Gesetze
besonders vorschreiben (§. 23.).

"Aus dieser Zusammenstellung ergiebt es sich ganz klar, daß das
mäßige Versehen als der in der Regel zu beachtende Fall (als das
Versehen schlechthin) angesehen wird, anstatt daß die beiden andern Grade
nur eine exceptionelle und vergleichungsweise untergeordnete Natur
haben."



"Gesetzt nun, es wären im Strafrecht einzelne Verbrechen aus
Fahrlässigkeit
, ohne nähere Bestimmung eines Grades, mit Strafe
bedroht, so würde, nach den oben entwickelten allgemeinen Begriffen und
Regeln, kein Richter im Zweifel sein können, nicht nur die grobe, son-
dern auch die mäßige Fahrlässigkeit zu bestrafen, und er würde die zwi-
schen beiden eintretende natürliche Verschiedenheit nur als einen Abmes-
sungsgrund der Strafe behandeln. Dagegen würde er die geringe Fahr-

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§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.
bis 25. die allgemeinen Begriffe und Grundſätze über die culpa in fol-
gender Weiſe auf:“;

„Zuerſt werden, übereinſtimmend mit der damals im gemeinen
Recht allgemein angenommenen Lehre, drei Grade des Verſehens un-
terſchieden (§. 18-23.); hierauf folgt eine Vorſchrift über die Berück-
ſichtigung der Individualität des Handelnden (§§. 24. 25.).“

„Ueber die drei Grade des Verſehens finden ſich folgende Beſtim-
mungen:“

1)„„Grobes Verſehen heißt dasjenige, welches, bei gewöhnlichen
Fähigkeiten, ohne Anſtrengung der Aufmerkſamkeit vermieden
werden konnte (§. 20.). Die eigenthümliche Folge dieſes Grades beſteht
nur darin, daß derſelbe, in ſo fern es auf Schadenerſatz ankommt, dem
Vorſatz gleich beurtheilt werden ſoll““ (§. 19.).

2) „„Ein mäßiges Verſehen heißt dasjenige, welches bei einem
gewöhnlichen Grade von Aufmerkſamkeit vermieden werden
konnte““ (§. 20.).

„Für dieſen Grad wird folgende praktiſche Regel aufgeſtellt:“

„„Auch ein mäßiges Verſehen muß verantwortet wer-
den
““ (§. 21.).

3) „„Geringes Verſehen iſt dasjenige, welches nur durch eine
ungewöhnliche Anſtrengung der Aufmerkſamkeit u. ſ. w. ver-
mieden werden konnte““ (§. 22.).

„Für dieſen letzten Grad gilt die Regel, daß derſelbe nur aus-
nahmsweiſe
vertreten werden ſoll, nämlich nur da, wo es die Geſetze
beſonders vorſchreiben (§. 23.).

„Aus dieſer Zuſammenſtellung ergiebt es ſich ganz klar, daß das
mäßige Verſehen als der in der Regel zu beachtende Fall (als das
Verſehen ſchlechthin) angeſehen wird, anſtatt daß die beiden andern Grade
nur eine exceptionelle und vergleichungsweiſe untergeordnete Natur
haben.“



„Geſetzt nun, es wären im Strafrecht einzelne Verbrechen aus
Fahrläſſigkeit
, ohne nähere Beſtimmung eines Grades, mit Strafe
bedroht, ſo würde, nach den oben entwickelten allgemeinen Begriffen und
Regeln, kein Richter im Zweifel ſein können, nicht nur die grobe, ſon-
dern auch die mäßige Fahrläſſigkeit zu beſtrafen, und er würde die zwi-
ſchen beiden eintretende natürliche Verſchiedenheit nur als einen Abmeſ-
ſungsgrund der Strafe behandeln. Dagegen würde er die geringe Fahr-

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[51/0061] §. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit. bis 25. die allgemeinen Begriffe und Grundſätze über die culpa in fol- gender Weiſe auf:“; „Zuerſt werden, übereinſtimmend mit der damals im gemeinen Recht allgemein angenommenen Lehre, drei Grade des Verſehens un- terſchieden (§. 18-23.); hierauf folgt eine Vorſchrift über die Berück- ſichtigung der Individualität des Handelnden (§§. 24. 25.).“ „Ueber die drei Grade des Verſehens finden ſich folgende Beſtim- mungen:“ 1)„„Grobes Verſehen heißt dasjenige, welches, bei gewöhnlichen Fähigkeiten, ohne Anſtrengung der Aufmerkſamkeit vermieden werden konnte (§. 20.). Die eigenthümliche Folge dieſes Grades beſteht nur darin, daß derſelbe, in ſo fern es auf Schadenerſatz ankommt, dem Vorſatz gleich beurtheilt werden ſoll““ (§. 19.). 2) „„Ein mäßiges Verſehen heißt dasjenige, welches bei einem gewöhnlichen Grade von Aufmerkſamkeit vermieden werden konnte““ (§. 20.). „Für dieſen Grad wird folgende praktiſche Regel aufgeſtellt:“ „„Auch ein mäßiges Verſehen muß verantwortet wer- den““ (§. 21.). 3) „„Geringes Verſehen iſt dasjenige, welches nur durch eine ungewöhnliche Anſtrengung der Aufmerkſamkeit u. ſ. w. ver- mieden werden konnte““ (§. 22.). „Für dieſen letzten Grad gilt die Regel, daß derſelbe nur aus- nahmsweiſe vertreten werden ſoll, nämlich nur da, wo es die Geſetze beſonders vorſchreiben (§. 23.). „Aus dieſer Zuſammenſtellung ergiebt es ſich ganz klar, daß das mäßige Verſehen als der in der Regel zu beachtende Fall (als das Verſehen ſchlechthin) angeſehen wird, anſtatt daß die beiden andern Grade nur eine exceptionelle und vergleichungsweiſe untergeordnete Natur haben.“ „Geſetzt nun, es wären im Strafrecht einzelne Verbrechen aus Fahrläſſigkeit, ohne nähere Beſtimmung eines Grades, mit Strafe bedroht, ſo würde, nach den oben entwickelten allgemeinen Begriffen und Regeln, kein Richter im Zweifel ſein können, nicht nur die grobe, ſon- dern auch die mäßige Fahrläſſigkeit zu beſtrafen, und er würde die zwi- ſchen beiden eintretende natürliche Verſchiedenheit nur als einen Abmeſ- ſungsgrund der Strafe behandeln. Dagegen würde er die geringe Fahr- 4*

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/61>, abgerufen am 29.03.2024.