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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

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§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.
gemildert werden, wenn der Verbrecher bei der That auf Befehl oder
im Auftrag einer Person gehandelt hat, welcher er im Allgemeinen
Gehorsam oder besondere Ehrerbietung schuldig war."

Gegen diese Bestimmungen wurde später von Seiten des Ministe-
riums für die Gesetz-Revision bemerkt:

"Die eigentliche Disposition des §. 92. liegt in dem zweiten Ab-
satz desselben. Dieser greift aber in Verhältnisse hinüber, die das Straf-
gesetzbuch nicht zu ordnen hat. Wie weit die Amtsbefugnisse gehen,
läßt sich nur nach staatsrechtlichen Grundsätzen entscheiden. Im Straf-
gesetzbuch ist aber zu einer solchen Bestimmung um so weniger ein prak-
tisches Bedürfniß vorhanden, als dieselbe sich hier nur im Kreise bewegt.
Denn zu welchem Befehle der Vorgesetzte "an sich" befugt war, das ist
ja ganz eigentlich die zweifelhafte Frage, die in jedem einzelnen Fall
"nach den obwaltenden Umständen" zu entscheiden bleibt. Der zweite
Absatz des §. 92. bezieht sich nämlich offenbar nur auf Amtsverbrechen,
nicht auf gemeine Verbrechen. -- -- Es versteht sich Alles, was an
dem §. 92. richtig und wahr ist, eben so sehr von selbst, wie die Straf-
losigkeit des hinrichtenden Scharfrichters. -- Erscheint hiernach der §. 92.
in sich entbehrlich, so ist auch gegen den §. 115. einzuwenden, daß Ge-
horsam und Ehrerbietung nicht weiter gehen dürfen, als das Recht dar-
auf, und daß die Rücksicht auf den Einfluß einer imponirenden Auto-
rität, auf deren Geheiß Jemand ein Verbrechen begangen hat, zunächst
nur bei der Strafzumessung wirksam sein kann." v)

Aus diesen Gründen wurde die Fortlassung der beiden angeführten
Paragraphen beschlossen. w) Eine von der eben gegebenen Erörterung
unabhängige Frage bleibt es natürlich, ob ein Vorgesetzter zu der §. 40.
des Strafgesetzbuchs erwähnten Ausschließung der freien Willensbestim-
mung durch Zwang oder Drohungen die Veranlassung gegeben hat.

IV. Gleich bei der ersten Revision des Strafrechts wurde der
Grundsatz aufgestellt, daß es keine verminderte Zurechnungsfähigkeit,
keine Grade der Zurechnung giebt.

"Die Frage, ob jemand in Bezug auf eine bestimmte Handlung
oder überhaupt zurechnungsfähig sei, ob ihm sein Thun und Lassen auf
die Rechnung gesetzt werden könne? ist stets präjudiciell, und gestattet
nur eine bestimmte, entweder bejahende oder verneinende Antwort. Ein
Mittelding ist nicht denkbar; wer nicht unfrei ist, der ist frei, mag diese
Freiheit auch noch so sehr vermindert sein; die Zurechnung kann daher
durchaus keine Grade haben."

x)
v) Revision von 1845. I. S. 204. 205.
w) Verhandlungen der Staatsraths-Kommission von 1846. S. 147.
x) Motive zum ersten Entwurf. I. S. 144. -- Ob die Vorschrift des

§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.
gemildert werden, wenn der Verbrecher bei der That auf Befehl oder
im Auftrag einer Perſon gehandelt hat, welcher er im Allgemeinen
Gehorſam oder beſondere Ehrerbietung ſchuldig war.“

Gegen dieſe Beſtimmungen wurde ſpäter von Seiten des Miniſte-
riums für die Geſetz-Reviſion bemerkt:

„Die eigentliche Dispoſition des §. 92. liegt in dem zweiten Ab-
ſatz deſſelben. Dieſer greift aber in Verhältniſſe hinüber, die das Straf-
geſetzbuch nicht zu ordnen hat. Wie weit die Amtsbefugniſſe gehen,
läßt ſich nur nach ſtaatsrechtlichen Grundſätzen entſcheiden. Im Straf-
geſetzbuch iſt aber zu einer ſolchen Beſtimmung um ſo weniger ein prak-
tiſches Bedürfniß vorhanden, als dieſelbe ſich hier nur im Kreiſe bewegt.
Denn zu welchem Befehle der Vorgeſetzte „an ſich“ befugt war, das iſt
ja ganz eigentlich die zweifelhafte Frage, die in jedem einzelnen Fall
„nach den obwaltenden Umſtänden“ zu entſcheiden bleibt. Der zweite
Abſatz des §. 92. bezieht ſich nämlich offenbar nur auf Amtsverbrechen,
nicht auf gemeine Verbrechen. — — Es verſteht ſich Alles, was an
dem §. 92. richtig und wahr iſt, eben ſo ſehr von ſelbſt, wie die Straf-
loſigkeit des hinrichtenden Scharfrichters. — Erſcheint hiernach der §. 92.
in ſich entbehrlich, ſo iſt auch gegen den §. 115. einzuwenden, daß Ge-
horſam und Ehrerbietung nicht weiter gehen dürfen, als das Recht dar-
auf, und daß die Rückſicht auf den Einfluß einer imponirenden Auto-
rität, auf deren Geheiß Jemand ein Verbrechen begangen hat, zunächſt
nur bei der Strafzumeſſung wirkſam ſein kann.“ v)

Aus dieſen Gründen wurde die Fortlaſſung der beiden angeführten
Paragraphen beſchloſſen. w) Eine von der eben gegebenen Erörterung
unabhängige Frage bleibt es natürlich, ob ein Vorgeſetzter zu der §. 40.
des Strafgeſetzbuchs erwähnten Ausſchließung der freien Willensbeſtim-
mung durch Zwang oder Drohungen die Veranlaſſung gegeben hat.

IV. Gleich bei der erſten Reviſion des Strafrechts wurde der
Grundſatz aufgeſtellt, daß es keine verminderte Zurechnungsfähigkeit,
keine Grade der Zurechnung giebt.

„Die Frage, ob jemand in Bezug auf eine beſtimmte Handlung
oder überhaupt zurechnungsfähig ſei, ob ihm ſein Thun und Laſſen auf
die Rechnung geſetzt werden könne? iſt ſtets präjudiciell, und geſtattet
nur eine beſtimmte, entweder bejahende oder verneinende Antwort. Ein
Mittelding iſt nicht denkbar; wer nicht unfrei iſt, der iſt frei, mag dieſe
Freiheit auch noch ſo ſehr vermindert ſein; die Zurechnung kann daher
durchaus keine Grade haben.“

x)
v) Reviſion von 1845. I. S. 204. 205.
w) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 147.
x) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 144. — Ob die Vorſchrift des
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[183/0193] §. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit. gemildert werden, wenn der Verbrecher bei der That auf Befehl oder im Auftrag einer Perſon gehandelt hat, welcher er im Allgemeinen Gehorſam oder beſondere Ehrerbietung ſchuldig war.“ Gegen dieſe Beſtimmungen wurde ſpäter von Seiten des Miniſte- riums für die Geſetz-Reviſion bemerkt: „Die eigentliche Dispoſition des §. 92. liegt in dem zweiten Ab- ſatz deſſelben. Dieſer greift aber in Verhältniſſe hinüber, die das Straf- geſetzbuch nicht zu ordnen hat. Wie weit die Amtsbefugniſſe gehen, läßt ſich nur nach ſtaatsrechtlichen Grundſätzen entſcheiden. Im Straf- geſetzbuch iſt aber zu einer ſolchen Beſtimmung um ſo weniger ein prak- tiſches Bedürfniß vorhanden, als dieſelbe ſich hier nur im Kreiſe bewegt. Denn zu welchem Befehle der Vorgeſetzte „an ſich“ befugt war, das iſt ja ganz eigentlich die zweifelhafte Frage, die in jedem einzelnen Fall „nach den obwaltenden Umſtänden“ zu entſcheiden bleibt. Der zweite Abſatz des §. 92. bezieht ſich nämlich offenbar nur auf Amtsverbrechen, nicht auf gemeine Verbrechen. — — Es verſteht ſich Alles, was an dem §. 92. richtig und wahr iſt, eben ſo ſehr von ſelbſt, wie die Straf- loſigkeit des hinrichtenden Scharfrichters. — Erſcheint hiernach der §. 92. in ſich entbehrlich, ſo iſt auch gegen den §. 115. einzuwenden, daß Ge- horſam und Ehrerbietung nicht weiter gehen dürfen, als das Recht dar- auf, und daß die Rückſicht auf den Einfluß einer imponirenden Auto- rität, auf deren Geheiß Jemand ein Verbrechen begangen hat, zunächſt nur bei der Strafzumeſſung wirkſam ſein kann.“ v) Aus dieſen Gründen wurde die Fortlaſſung der beiden angeführten Paragraphen beſchloſſen. w) Eine von der eben gegebenen Erörterung unabhängige Frage bleibt es natürlich, ob ein Vorgeſetzter zu der §. 40. des Strafgeſetzbuchs erwähnten Ausſchließung der freien Willensbeſtim- mung durch Zwang oder Drohungen die Veranlaſſung gegeben hat. IV. Gleich bei der erſten Reviſion des Strafrechts wurde der Grundſatz aufgeſtellt, daß es keine verminderte Zurechnungsfähigkeit, keine Grade der Zurechnung giebt. „Die Frage, ob jemand in Bezug auf eine beſtimmte Handlung oder überhaupt zurechnungsfähig ſei, ob ihm ſein Thun und Laſſen auf die Rechnung geſetzt werden könne? iſt ſtets präjudiciell, und geſtattet nur eine beſtimmte, entweder bejahende oder verneinende Antwort. Ein Mittelding iſt nicht denkbar; wer nicht unfrei iſt, der iſt frei, mag dieſe Freiheit auch noch ſo ſehr vermindert ſein; die Zurechnung kann daher durchaus keine Grade haben.“ x) v) Reviſion von 1845. I. S. 204. 205. w) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 147. x) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 144. — Ob die Vorſchrift des

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/193>, abgerufen am 29.03.2024.