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Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Paar, wickelte alle Paare auseinander, die Nadel war nicht da. Sie suchte sie wie eine Stecknadel, umsonst.

Beim Mittagstisch sprach Niemand mit ihr. Die Schwester sah sie von Zeit zu Zeit verstohlen an, wenn sie den Löffel zum Munde führte; Lieschen glaubte einen spöttischen Triumph in ihren Augen zu erblicken. Wäre Lieschen katholisch gewesen, so hätte sie gedacht: Ich bin in den Bann gethan. Die Kehle war ihr zugeschnürt, sie konnte nicht essen. Sie athmete erst auf, als sie mit der Hacke auf der Schulter ins Freie trat. Bei der Arbeit faßte sie den Entschluß, Fritz, es koste was es wolle, erst zu sprechen, ehe sie wieder über ihre Schwelle schritte, und ihm das Vorgefallene mitzutheilen. Sie blieb daher, als Feierabend war, hinter den anderen Mädchen zurück und schlug den Weg ein, den sie glaubte, daß Fritz kommen müsse. Sie ging weiter und weiter, aber sie sah ihn nicht. Sie stand unter den Bäumen, die sich im weiten Halbkreis um das Dorf und seine dürre, mit kurzem Gras bewachsene Flur ziehen, und sah sich die Augen blind. Jetzt kam ein Haufen Bursche daher, aber wenn er unter ihnen war, wie sollte sie ihn abrufen? wenn die Männer sie erblickten, so spät, so allein, was hätten sie gedacht? Sie sprang in den Graben des Moosbächleins, das den Waldrand netzte -- die Hitze hatte es an den höheren Stellen trocken gelegt -- und verbarg sich im hohen Gras. Die Männer gingen vorüber, sie hörte sie reden, Fritz war nicht darunter. Lieschen erhob sich wieder, stellte sich hinter

Paar, wickelte alle Paare auseinander, die Nadel war nicht da. Sie suchte sie wie eine Stecknadel, umsonst.

Beim Mittagstisch sprach Niemand mit ihr. Die Schwester sah sie von Zeit zu Zeit verstohlen an, wenn sie den Löffel zum Munde führte; Lieschen glaubte einen spöttischen Triumph in ihren Augen zu erblicken. Wäre Lieschen katholisch gewesen, so hätte sie gedacht: Ich bin in den Bann gethan. Die Kehle war ihr zugeschnürt, sie konnte nicht essen. Sie athmete erst auf, als sie mit der Hacke auf der Schulter ins Freie trat. Bei der Arbeit faßte sie den Entschluß, Fritz, es koste was es wolle, erst zu sprechen, ehe sie wieder über ihre Schwelle schritte, und ihm das Vorgefallene mitzutheilen. Sie blieb daher, als Feierabend war, hinter den anderen Mädchen zurück und schlug den Weg ein, den sie glaubte, daß Fritz kommen müsse. Sie ging weiter und weiter, aber sie sah ihn nicht. Sie stand unter den Bäumen, die sich im weiten Halbkreis um das Dorf und seine dürre, mit kurzem Gras bewachsene Flur ziehen, und sah sich die Augen blind. Jetzt kam ein Haufen Bursche daher, aber wenn er unter ihnen war, wie sollte sie ihn abrufen? wenn die Männer sie erblickten, so spät, so allein, was hätten sie gedacht? Sie sprang in den Graben des Moosbächleins, das den Waldrand netzte — die Hitze hatte es an den höheren Stellen trocken gelegt — und verbarg sich im hohen Gras. Die Männer gingen vorüber, sie hörte sie reden, Fritz war nicht darunter. Lieschen erhob sich wieder, stellte sich hinter

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[0028] Paar, wickelte alle Paare auseinander, die Nadel war nicht da. Sie suchte sie wie eine Stecknadel, umsonst. Beim Mittagstisch sprach Niemand mit ihr. Die Schwester sah sie von Zeit zu Zeit verstohlen an, wenn sie den Löffel zum Munde führte; Lieschen glaubte einen spöttischen Triumph in ihren Augen zu erblicken. Wäre Lieschen katholisch gewesen, so hätte sie gedacht: Ich bin in den Bann gethan. Die Kehle war ihr zugeschnürt, sie konnte nicht essen. Sie athmete erst auf, als sie mit der Hacke auf der Schulter ins Freie trat. Bei der Arbeit faßte sie den Entschluß, Fritz, es koste was es wolle, erst zu sprechen, ehe sie wieder über ihre Schwelle schritte, und ihm das Vorgefallene mitzutheilen. Sie blieb daher, als Feierabend war, hinter den anderen Mädchen zurück und schlug den Weg ein, den sie glaubte, daß Fritz kommen müsse. Sie ging weiter und weiter, aber sie sah ihn nicht. Sie stand unter den Bäumen, die sich im weiten Halbkreis um das Dorf und seine dürre, mit kurzem Gras bewachsene Flur ziehen, und sah sich die Augen blind. Jetzt kam ein Haufen Bursche daher, aber wenn er unter ihnen war, wie sollte sie ihn abrufen? wenn die Männer sie erblickten, so spät, so allein, was hätten sie gedacht? Sie sprang in den Graben des Moosbächleins, das den Waldrand netzte — die Hitze hatte es an den höheren Stellen trocken gelegt — und verbarg sich im hohen Gras. Die Männer gingen vorüber, sie hörte sie reden, Fritz war nicht darunter. Lieschen erhob sich wieder, stellte sich hinter

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt, c/o Prof. Dr. Thomas Weitin, TU Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-10T13:46:34Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget: conversion of OCR output to TEI-conformant markup and general correction. (2017-03-10T13:46:34Z)
Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-10T13:46:34Z)

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Zitationshilfe: Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berthold_irrwischfritze_1910/28>, abgerufen am 16.04.2024.