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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Das Alpengebäude.
zu dem Furchtbarsten gehören, was der menschliche Gedanke nur zu
erfassen vermag. Tausend Merkmale bezeugen dies bei näherer
Betrachtung des Gebirgsreliefs, namentlich die noch heute an
pitoresken Formen reichen, scharfkantigen Linien und Brüche der
Dolomit-Gebirge, die sich weder abrunden, noch verwitternd zer¬
bröckeln, -- die abenteuerlichen Zickzack-Ornamente und wunderbar
phantastischen Formenspiele in den Kalkalpen, soweit diese nicht
durch Firn-Einlagerungen oder Ueberdeckung mittelst jüngerer Fels¬
gebilde dem Auge entzogen werden, -- dies bezeugen die großen
Thalrisse und Schluchten, wie die in der Via-Mala, im Tamina¬
thale, in der Trientschlucht, die schlundähnlichen Mündungen der
meisten südlichen Walliser und Engadiner Seitenthäler, deren beide
Thal- oder Schluchtwände heute noch die ineinander passenden
Bruchflächen (mitunter bis in die kleinsten Details erhalten) zeigen,
-- das bestätigen die kahlen, im Material-Profil sich präsentirenden
Felsenköpfe, die, senkrecht absinkend, alle übereinander liegenden
Schichten dem Blicke preisgeben, während der Pendent, der abge¬
brochene, einst gegenüberstehende, nunmehr fehlende, massige Gegen-
Part in die Tiefen versunken ist, wie z. B. am Wallensee die
Wände der Churfirstenkette, die Felsenfronten des Frohnalpstockes
und Axen am Vierwaldstätter-See u. a. m.

Betrachten wir dann weiter jene majestätischen Strebemassen,
die gleich gigantischen Obelisken frei und kühn in die Wolken
emporsteigen, Zinken wie das unerklimmbare, schneenackte, 13850 Fuß
hohe Matterhorn, die blendende Firnpyramide der fast eben so
hohen Dent blanche, das neunzinkige Gipfeldiadem des Monte
Rosa (von 14200 Fuß Höhe), welche unmöglich in ihrer Pfeiler-
Gestalt, wie wir sie jetzt sehen, durch die Erdkruste aus der Tiefe
hervorgestoßen sein können, sondern nichts als vereinzelt stehen¬
gebliebene Ruinen-Reste des ehemaligen alten Berggebäudes sind, --
was für gräßliche Zertrümmerungs-Akte müssen es gewesen sein, die
jene dazwischen nun fehlenden Glieder lostrennten und wahrscheinlich

Das Alpengebäude.
zu dem Furchtbarſten gehören, was der menſchliche Gedanke nur zu
erfaſſen vermag. Tauſend Merkmale bezeugen dies bei näherer
Betrachtung des Gebirgsreliefs, namentlich die noch heute an
pitoresken Formen reichen, ſcharfkantigen Linien und Brüche der
Dolomit-Gebirge, die ſich weder abrunden, noch verwitternd zer¬
bröckeln, — die abenteuerlichen Zickzack-Ornamente und wunderbar
phantaſtiſchen Formenſpiele in den Kalkalpen, ſoweit dieſe nicht
durch Firn-Einlagerungen oder Ueberdeckung mittelſt jüngerer Fels¬
gebilde dem Auge entzogen werden, — dies bezeugen die großen
Thalriſſe und Schluchten, wie die in der Via-Mala, im Tamina¬
thale, in der Trientſchlucht, die ſchlundähnlichen Mündungen der
meiſten ſüdlichen Walliſer und Engadiner Seitenthäler, deren beide
Thal- oder Schluchtwände heute noch die ineinander paſſenden
Bruchflächen (mitunter bis in die kleinſten Details erhalten) zeigen,
— das beſtätigen die kahlen, im Material-Profil ſich präſentirenden
Felſenköpfe, die, ſenkrecht abſinkend, alle übereinander liegenden
Schichten dem Blicke preisgeben, während der Pendent, der abge¬
brochene, einſt gegenüberſtehende, nunmehr fehlende, maſſige Gegen-
Part in die Tiefen verſunken iſt, wie z. B. am Wallenſee die
Wände der Churfirſtenkette, die Felſenfronten des Frohnalpſtockes
und Axen am Vierwaldſtätter-See u. a. m.

Betrachten wir dann weiter jene majeſtätiſchen Strebemaſſen,
die gleich gigantiſchen Obelisken frei und kühn in die Wolken
emporſteigen, Zinken wie das unerklimmbare, ſchneenackte, 13850 Fuß
hohe Matterhorn, die blendende Firnpyramide der faſt eben ſo
hohen Dent blanche, das neunzinkige Gipfeldiadem des Monte
Roſa (von 14200 Fuß Höhe), welche unmöglich in ihrer Pfeiler-
Geſtalt, wie wir ſie jetzt ſehen, durch die Erdkruſte aus der Tiefe
hervorgeſtoßen ſein können, ſondern nichts als vereinzelt ſtehen¬
gebliebene Ruinen-Reſte des ehemaligen alten Berggebäudes ſind, —
was für gräßliche Zertrümmerungs-Akte müſſen es geweſen ſein, die
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[5/0023] Das Alpengebäude. zu dem Furchtbarſten gehören, was der menſchliche Gedanke nur zu erfaſſen vermag. Tauſend Merkmale bezeugen dies bei näherer Betrachtung des Gebirgsreliefs, namentlich die noch heute an pitoresken Formen reichen, ſcharfkantigen Linien und Brüche der Dolomit-Gebirge, die ſich weder abrunden, noch verwitternd zer¬ bröckeln, — die abenteuerlichen Zickzack-Ornamente und wunderbar phantaſtiſchen Formenſpiele in den Kalkalpen, ſoweit dieſe nicht durch Firn-Einlagerungen oder Ueberdeckung mittelſt jüngerer Fels¬ gebilde dem Auge entzogen werden, — dies bezeugen die großen Thalriſſe und Schluchten, wie die in der Via-Mala, im Tamina¬ thale, in der Trientſchlucht, die ſchlundähnlichen Mündungen der meiſten ſüdlichen Walliſer und Engadiner Seitenthäler, deren beide Thal- oder Schluchtwände heute noch die ineinander paſſenden Bruchflächen (mitunter bis in die kleinſten Details erhalten) zeigen, — das beſtätigen die kahlen, im Material-Profil ſich präſentirenden Felſenköpfe, die, ſenkrecht abſinkend, alle übereinander liegenden Schichten dem Blicke preisgeben, während der Pendent, der abge¬ brochene, einſt gegenüberſtehende, nunmehr fehlende, maſſige Gegen- Part in die Tiefen verſunken iſt, wie z. B. am Wallenſee die Wände der Churfirſtenkette, die Felſenfronten des Frohnalpſtockes und Axen am Vierwaldſtätter-See u. a. m. Betrachten wir dann weiter jene majeſtätiſchen Strebemaſſen, die gleich gigantiſchen Obelisken frei und kühn in die Wolken emporſteigen, Zinken wie das unerklimmbare, ſchneenackte, 13850 Fuß hohe Matterhorn, die blendende Firnpyramide der faſt eben ſo hohen Dent blanche, das neunzinkige Gipfeldiadem des Monte Roſa (von 14200 Fuß Höhe), welche unmöglich in ihrer Pfeiler- Geſtalt, wie wir ſie jetzt ſehen, durch die Erdkruſte aus der Tiefe hervorgeſtoßen ſein können, ſondern nichts als vereinzelt ſtehen¬ gebliebene Ruinen-Reſte des ehemaligen alten Berggebäudes ſind, — was für gräßliche Zertrümmerungs-Akte müſſen es geweſen ſein, die jene dazwiſchen nun fehlenden Glieder loſtrennten und wahrſcheinlich

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/23>, abgerufen am 29.03.2024.