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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Die Tartaren und die Mongolen. XVII.
ein Symbol der Abwehr und vergegenwärtigt die heutige Krieg-
führung der Chinesen, die mit mächtigen Mauerfronten, Tausenden
unbrauchbarer Geschütze, mit gewaltigem Knallen, Fahnenschwenken,
mit Grimassen und pomphaften Drohungen den Feind in die Flucht
zu schlagen denken. Man möchte bezweifeln, dass die Mauer auch
nur die räuberischen Streifzüge einzelner Horden hemmte; denn
zur Vertheidigung ist sie zu ausgedehnt, unvertheidigt aber bietet
sie kein Hinderniss. Weder die Heere der Mongolen im 13. noch
die der Tartaren im 17. Jahrhundert hielt die Mauer auf. Schwache
chinesische Herrscher haben immer vor diesen nur dem Namen
nach tributpflichtigen Nachbarn gezittert, den Frieden erkauft. Das
regierende Haus der Tsin ist dem Stamm der Mandschu-Tartaren
entsprossen und herrscht über China, weil es sich dessen über-
legene Gesittung aneignete; denn die Masse und die Cultur des
chinesischen Volkes sind zu bedeutend, um nicht immer wieder
eine fremde Gewaltherrschaft abzuschütteln. Die Tsin verbinden
sich ihre Stammgenossen durch Verleihung einflussreicher Aemter,
zu denen sich der Chinese nur durch angestrengtes Arbeiten empor-
schwingen kann, und haben von dieser Seite nichts zu befürchten.
Die Mongolenfürsten aber sucht das Kaiserhaus noch heut bestän-
dig durch Wechselheirathen an sich zu fesseln, und ruft nur im
äussersten Nothfall deren Streitkräfte in das Reich. Unterdessen
dringen Chinesen colonisirend immer weiter nach Norden und
Westen vor und strecken hundert Fühlfäden über die grosse Mauer
hinaus. Wo sie Fuss fassen, überflügelt ihre höhere Gesittung die
rohe Einfalt der Nachbarn; die wüste Hochebene Gobi setzt ihnen
jedoch eine natürliche Grenze, nicht aber den wilden Nomaden,
deren Heimath sie ist. Nur dem Namen nach tributpflichtig, bleiben
diese ein drohendes Wettergewölk am Horizont, dessen Schlägen,
wenn es sich zusammenballt, das chinesische Reich periodisch immer
wieder erliegen muss.

Solche Gedanken musste die Aussicht von jenem Gipfel er-
wecken. Nach Norden breitet sich am Fuss der steil abfallenden
Hänge eine weite grüne Fläche aus, begrenzt durch fernes Ge-
birge: das ist der Abhang des unermesslichen Hochlandes Gobi.
Am Fusse dieser Terrainstufe liegt Kalgan, der berühmte Sammel-
platz der Karawanen aus der Mongolei, aus Tibet und Turkestan.
Eine zweite Linie der grossen Mauer säumt, hart hinter Kalgan
vorbeistreifend, die Wurzeln des steil ansteigenden trockenen Hoch-

Die Tartaren und die Mongolen. XVII.
ein Symbol der Abwehr und vergegenwärtigt die heutige Krieg-
führung der Chinesen, die mit mächtigen Mauerfronten, Tausenden
unbrauchbarer Geschütze, mit gewaltigem Knallen, Fahnenschwenken,
mit Grimassen und pomphaften Drohungen den Feind in die Flucht
zu schlagen denken. Man möchte bezweifeln, dass die Mauer auch
nur die räuberischen Streifzüge einzelner Horden hemmte; denn
zur Vertheidigung ist sie zu ausgedehnt, unvertheidigt aber bietet
sie kein Hinderniss. Weder die Heere der Mongolen im 13. noch
die der Tartaren im 17. Jahrhundert hielt die Mauer auf. Schwache
chinesische Herrscher haben immer vor diesen nur dem Namen
nach tributpflichtigen Nachbarn gezittert, den Frieden erkauft. Das
regierende Haus der Tsiṅ ist dem Stamm der Mandschu-Tartaren
entsprossen und herrscht über China, weil es sich dessen über-
legene Gesittung aneignete; denn die Masse und die Cultur des
chinesischen Volkes sind zu bedeutend, um nicht immer wieder
eine fremde Gewaltherrschaft abzuschütteln. Die Tsiṅ verbinden
sich ihre Stammgenossen durch Verleihung einflussreicher Aemter,
zu denen sich der Chinese nur durch angestrengtes Arbeiten empor-
schwingen kann, und haben von dieser Seite nichts zu befürchten.
Die Mongolenfürsten aber sucht das Kaiserhaus noch heut bestän-
dig durch Wechselheirathen an sich zu fesseln, und ruft nur im
äussersten Nothfall deren Streitkräfte in das Reich. Unterdessen
dringen Chinesen colonisirend immer weiter nach Norden und
Westen vor und strecken hundert Fühlfäden über die grosse Mauer
hinaus. Wo sie Fuss fassen, überflügelt ihre höhere Gesittung die
rohe Einfalt der Nachbarn; die wüste Hochebene Gobi setzt ihnen
jedoch eine natürliche Grenze, nicht aber den wilden Nomaden,
deren Heimath sie ist. Nur dem Namen nach tributpflichtig, bleiben
diese ein drohendes Wettergewölk am Horizont, dessen Schlägen,
wenn es sich zusammenballt, das chinesische Reich periodisch immer
wieder erliegen muss.

Solche Gedanken musste die Aussicht von jenem Gipfel er-
wecken. Nach Norden breitet sich am Fuss der steil abfallenden
Hänge eine weite grüne Fläche aus, begrenzt durch fernes Ge-
birge: das ist der Abhang des unermesslichen Hochlandes Gobi.
Am Fusse dieser Terrainstufe liegt Kalgan, der berühmte Sammel-
platz der Karawanen aus der Mongolei, aus Tibet und Turkestan.
Eine zweite Linie der grossen Mauer säumt, hart hinter Kalgan
vorbeistreifend, die Wurzeln des steil ansteigenden trockenen Hoch-

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[162/0176] Die Tartaren und die Mongolen. XVII. ein Symbol der Abwehr und vergegenwärtigt die heutige Krieg- führung der Chinesen, die mit mächtigen Mauerfronten, Tausenden unbrauchbarer Geschütze, mit gewaltigem Knallen, Fahnenschwenken, mit Grimassen und pomphaften Drohungen den Feind in die Flucht zu schlagen denken. Man möchte bezweifeln, dass die Mauer auch nur die räuberischen Streifzüge einzelner Horden hemmte; denn zur Vertheidigung ist sie zu ausgedehnt, unvertheidigt aber bietet sie kein Hinderniss. Weder die Heere der Mongolen im 13. noch die der Tartaren im 17. Jahrhundert hielt die Mauer auf. Schwache chinesische Herrscher haben immer vor diesen nur dem Namen nach tributpflichtigen Nachbarn gezittert, den Frieden erkauft. Das regierende Haus der Tsiṅ ist dem Stamm der Mandschu-Tartaren entsprossen und herrscht über China, weil es sich dessen über- legene Gesittung aneignete; denn die Masse und die Cultur des chinesischen Volkes sind zu bedeutend, um nicht immer wieder eine fremde Gewaltherrschaft abzuschütteln. Die Tsiṅ verbinden sich ihre Stammgenossen durch Verleihung einflussreicher Aemter, zu denen sich der Chinese nur durch angestrengtes Arbeiten empor- schwingen kann, und haben von dieser Seite nichts zu befürchten. Die Mongolenfürsten aber sucht das Kaiserhaus noch heut bestän- dig durch Wechselheirathen an sich zu fesseln, und ruft nur im äussersten Nothfall deren Streitkräfte in das Reich. Unterdessen dringen Chinesen colonisirend immer weiter nach Norden und Westen vor und strecken hundert Fühlfäden über die grosse Mauer hinaus. Wo sie Fuss fassen, überflügelt ihre höhere Gesittung die rohe Einfalt der Nachbarn; die wüste Hochebene Gobi setzt ihnen jedoch eine natürliche Grenze, nicht aber den wilden Nomaden, deren Heimath sie ist. Nur dem Namen nach tributpflichtig, bleiben diese ein drohendes Wettergewölk am Horizont, dessen Schlägen, wenn es sich zusammenballt, das chinesische Reich periodisch immer wieder erliegen muss. Solche Gedanken musste die Aussicht von jenem Gipfel er- wecken. Nach Norden breitet sich am Fuss der steil abfallenden Hänge eine weite grüne Fläche aus, begrenzt durch fernes Ge- birge: das ist der Abhang des unermesslichen Hochlandes Gobi. Am Fusse dieser Terrainstufe liegt Kalgan, der berühmte Sammel- platz der Karawanen aus der Mongolei, aus Tibet und Turkestan. Eine zweite Linie der grossen Mauer säumt, hart hinter Kalgan vorbeistreifend, die Wurzeln des steil ansteigenden trockenen Hoch-

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/176>, abgerufen am 19.04.2024.